Eilfte Erzählung.
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Von Gallicus, dem Kaiser zu Rom.

[158] Einst herrschte der gewaltige Kaiser Gallicus zu Rom, der setzte zu einem Rechte fest, daß wer von fremden Landen an seinen Hof käme, dem werde sogleich ein gebratener Fisch vorgesetzt, und Jedermann solle darauf[158] merken, ob er den Fisch auf der einen Seite bis auf die Gräten verzehre und ihn dann auf die andere Seite umkehre, wer das thue, der solle alsbald gefangen gesetzt werden und den dritten Tag solle man ihn ohne Gnade aufhenken. Allein die drei Tage lang, während welchen er im Gefängnisse lag, konnte er alle Tage, was für eine Bitte er wollte, an den König thun, ausgenommen für sein Leben, die wurde ihm gewährt. Also kamen ihrer Viele um ihren Hals, und eines Tages kam ein Graf an den Hof, der seinen Sohn mit sich brachte. Der ward von Allen männiglich empfangen, und sogleich wurde ihm nach dem Gesetze des Kaisers ein gebratener Fisch aufgetragen, und davon aßen sie beide, der Vater und der Sohn. Und da sie die eine Seite des Fisches gegessen hatten, da kehrte ihn der Graf auf die andere Seite um, und da das die Diener sahen, hinterbrachten sie es alsbald dem Kaiser. Der aber befahl, man solle ihn sahen. Wie das der Sohn sah, ging ihm des Vaters Leid sehr zu Herzen, und er verlangte, man solle ihn für seinen Vater sterben lasse. Das gewährte ihm der Kaiser und ließ ihn ins Gefängniß legen, den Vater aber ledig. Wie das geschehen war, sprach jener: Ihr wisset wohl des Kaisers Gebot, daß ich dreierlei vor meinem Tode bitten kann. Darum begehre ich, daß Ihr zu dem Kaiser gehet und ihn bittet, daß er mir seine Tochter mit einem Pfaffen sende und sie mir zum Weibe gebe. Da gingen die Boten hin und sagten es dem Kaiser; der konnte nicht gegen sein Gesetz thun und mußte es gestatten und gab ihm seine Tochter, und diese schlief die Nacht bei ihm. Darnach am andern Tage begehrte er, daß ihm der Kaiser alle seine Habe geben solle, und da ihm solches gewährt worden war, theilte er Alles unter das Hofgesinde, davon wurden sie ihm aber[159] gar hold und günstig. Darnach am dritten Tage, da er nun sterben sollte, sandte der Kaiser zu ihm daß er seine dritte Bitte thun solle, er müsse sogleich sterben. Da sprach er: weil ich denn sterben soll, so bitte ich, daß der Kaiser einem Jeden, der da spricht, er habe es von meinem Vater gesehen, daß er den Fisch umkehrte, beide Augen ausstechen lasse. Wie das dem Kaiser gesagt worden war, fragte er überall herum auf dem Hofe, wer es gesehen habe. Da leugneten sie es Alle und sagten, Keiner habe das gesehen. Wie das des Kaisers Tochter vernahm, da sprach sie: weil es denn ihrer Keiner gesehen hat, daß sein Vater den Fisch umgewendet, so ist der Sohn billig zu entlassen. Und da der Kaiser die Weisheit des Knaben vernahm und wie ihm seine Tochter günstig war und auch alles Hofgesinde, da nahm er ihn gütig auf, machte ihn zum Erben über all sein Gut, und so ward er nach dem Tode seines Schwiegervaters zum Kaiser gemacht und herrschte gewaltig und weislich über das Reich bis an sein Ende.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 158-160.
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