E. Sagen finnischer Stämme.

[60] Einige Völker, die im europäisch-asiatischen Grenzgebiet wohnen und dem finnischen Stamme angehören, besitzen unsere Schöpfungssage in verschiedenen Formen.


1. Die Berg-Tscheremissen im Kazaner Gebiete.

Keremet1 schwamm in der Gestalt eines Enterichs auf dem Wasser, als Yuma die Erde zu erschaffen wünschte und ihm befahl, daß er ins Wasser hinabtauchen und vom Grunde Erde heraufbringen solle. Keremet brachte Erde, aber er gab nicht alle dem Yuma, sondern verbarg einen Teil in seinem Munde. Als Yuma die Erde anhauchte und auf der Oberfläche des Wassers eine ebene Erde erschuf, begann auch Keremet die von ihm versteckte Erde auszuspeien, und auf diese Weise setzte er zahlreiche hohe Berge auf die ebene Erde [folgt Erschaffung des Menschen, s. Kap. II]. Yuma entlockte dann dem Steine Funken, die in Gestalt von Engeln weiterflogen. Keremet beobachtete dies, und als Yuma schlief, entlockte auch er dem Steine Funken, aus denen aber Teufel entstanden.


  • Literatur: Strauß, Die Bulgaren, S. 16; Veselovskij, S. 7.

2. Die Mordvinen.

Als Tscham-Pas die Erschaffung der Welt beschloß, da erschuf er einen Geist, der fast in allem ihm ähnlich war und der ihm bei der Erschaffung und Regierung der Welt helfen sollte. Dieser von ihm erschaffene Geist war Saitan ... Einmal, als es auf der Welt außer dem Wasser gar nichts gab, schaukelte sich Tscham-Pas auf dem offenen Meere auf einem Felsen, nachdenkend, wie er die sichtbare Welt erschaffen und regieren solle. Er sprach daher: »Ich habe weder[60] einen Bruder noch einen Gefährten, mit dem ich diese Sache besprechen könnte.« So sprechend, spie er unwillig ins Meer und fuhr weiter. Ein Stück Weges schwimmend, blickte Tscham-Pas um sich und bemerkte, daß sein Speichel sich in einen großen Berg verwandelt habe, der ihm nachschwimme. Um den Berg zu zerstören, schlug Tscham-Pas mit seinem Stocke auf ihn. Sofort sprang aus ihm Saitan hervor2 und sprach also: »Du bist deshalb in großer Sorge, Herr, weil du weder einen Bruder noch einen solchen Gefährten hast, mit dem du die Erschaffung der Welt beraten und besprechen könntest; ich, wenn es dir so gefällt, will gerne dein Bruder sein!« Tscham-Pas freute sich und sprach: »Gut, es sei denn, sei du zwar nicht mein Bruder, wohl aber mein Gefährte. Erschaffen wir die Erde! Woraus sollen wir sie machen? Außer Wasser gibt es hier gar nichts!« Saitan schwieg; woher sollte er es auch wissen, woraus man die Erde erschaffen könnte! »Tauche, Gefährte, ins Meer unter,« sprach zu ihm Tscham-Pas, »am Grunde befindet sich Sand. Bring davon ein wenig herauf, wir machen daraus die Erde!« – »Auch ich wollte eben das selbe sagen, Bruder!« versetzte Saitan, der es dem Tscham-Pas nicht verraten wollte, daß er ihn für mehr und für wissender halte, als sich selber, und er nannte den Tscham-Pas fortwährend Bruder, obgleich dieser ihn nur als Gefährten aufgenommen hatte. »Steig also hinab auf den Grund, um Sand zu holen,« sprach Tscham-Pas, »aber achte darauf, daß, wenn du ihn anrührst, du meinen Namen erwähnst!« Saitan tauchte auf den Grund nieder; aber in seinem Stolze wollte er nicht den Namen des Tscham-Pas erwähnen, sondern sprach seinen eigenen aus. Deshalb konnte er kein Sandkörnchen erhalten; aus dem Grunde des Meeres schlugen Flammen hervor und verbrannten ringsum den Saitan. So verbrannt, stieg er auf die Oberfläche des Meeres empor. »Ich kann, Bruder,« sprach er zu Tscham-Pas, »nicht ein Sandkörnlein heraufholen, denn aus dem Grunde des Meeres schlagen Flammen hervor, die mich beinahe vernichtet haben!« – »Steige noch einmal, Gefährte, auf den Grund hinab,« sprach Tscham-Pas, »erwähne nur meinen Namen, und die Flammen werden dich nicht schädigen!« Saitan stieg abermals auf den Grund des Meeres hinab; aber sein Stolz ließ es auch jetzt nicht zu, daß er den Namen des Tscham-Pas erwähne. Saitan erwähnte abermals nur seinen Namen, und die Flammen verbrannten ihn abermals gar sehr. Saitan stieg abermals empor und erschien wieder ohne Sand vor Tscham-Pas. »Nun wie ist es dir ergangen, Gefährte, hast du Sand gebracht?« fragte ihn Tscham-Pas. »Ich habe nichts gebracht, Bruder; die Flammen haben mich noch ärger verbrannt, wie vordem,« versetzte Saitan. »Hast du, Gefährte, meinen Namen erwähnt?« fragte Tscham-Pas. Saitan, weil er nichts Klügeres tun konnte, gestand, daß er den Namen des Tscham-Pas nicht erwähnt habe. »Was für einen Namen hast du erwähnt, Gefährte?« fragte Tscham-Pas. »Meinen, Bruder!« versetzte Saitan. »Hör du, Gefährte,« sprach nun Tscham-Pas, »steig du zum drittenmal hinab auf des Meeres Grund und bring von dort, meinen Namen erwähnend, Sand. Aber halte es dir gut im Sinn, Gefährte, daß, wenn du wieder nicht meinen Namen erwähnst, die Flammen dich ganz verbrennen, so daß von dir nichts übrig bleibt!« Saitan stieg also zum drittenmal auf den Grund des Meeres und erwähnte nun in seiner Angst den Namen des Tscham-Pas und brachte daher auch einen Mund voll Sand herauf. Auf die Oberfläche des Meeres gelangend, übergab er den Sand dem Tscham-Pas; aber[61] nicht allen, sondern hielt einen Teil davon in seiner Backe, also bei sich denkend: »Es sei denn! Der Bruder erschaffe sich seine Erde, ich werde mir schon die meine erschaffen!« Tscham-Pas begann den Sand auf dem Meere hin und her zu streuen, der nun durch Wachsen zur Erde wurde. Aber in dem Maße, in welchem die Sandkörner im Meere wuchsen, in demselben Maße begannen auch diejenigen anzuschwellen, welche in Saitans Wange verborgen waren. Von ihnen wuchs sein Kopf zu einem ganzen Berge heran. Unerträgliche Schmerzen fühlend, begann Saitan fürchterlich zu brüllen. »Warum schreist du, Gefährte?« fragte ihn Tscham-Pas. Saitan konnte nichts Besseres tun, als einzugestehen. »Ich habe, Bruder,« sagte er, »nicht alle Erde aus meinem Munde ausgespieen; jetzt beginnt die Erde in meinem Kopfe zu wachsen und verursacht mir unerträgliche Schmerzen.« Tscham-Pas schlug mit seinem Szepter aufs Haupt des Saitan und sprach: »Speie den Sand aus, Gefährte, und werde heil!« Saitan begann, den Sand aus seinem Munde auszuspeien, aber mit solcher Kraft, daß die feuchte, noch nicht genug starke Erde zu zittern begann, und infolge dieses Erdbebens entstanden Vertiefungen, Bergrisse und Täler; aus dem Sande aber, welchen Saitan ausspie, entstanden Hügel, Berggipfel und Anhöhen. Als Saitan von seinem Leid frei wurde, sprach zu ihm Tscham-Pas: »Du paßt mir nicht zum Gefährten, denn du bist schlecht, ich aber bin gut; sei daher verflucht und gehe auf des Meeres Grund, auf die andere Welt, in jenes Feuer, das dich verbrannt hat, weil es dein Stolz nicht zuließ, daß du den Namen deines Schöpfers erwähnest. Sitz dort und leide dort in alle Ewigkeit!«


  • Literatur: Strauß, Die Bulgaren S. 17–19; Vjestnik IV 1867; Veselovskij, S. 8; englisch: Folklore Journal VII, 68; ungarisch: Ferd. Barna, A mordvaiak pogány istenei.

Varianten: a) Tschampas gibt der Göttermutter Ange-Patjai Stahl, deren Sohn Nischki-Pas bringt ihr Kiesel; durch Funkenschlagen erzeugt sie gute Geister, Saitan dagegen schafft durch Schlagen zweier Kiesel böse Geister.

b) Wjardja-Škaj schwimmt in einem Kahn, spuckt ins Wasser, und es entsteht Saitan in Vogelgestalt. Dieser holt Erde. Berge entstehen. Danach Vertragsabschluß: Die lebenden Menschen gehören Gott, die toten dem Teufel. Da sterben die Menschen fast alle, bis Gott diese Abmachung, die im Meer in einem Stein verschlossen war, wegnehmen ließ. (Veselovskij 5. 7 und 12.)


3. Die Wotjaken

haben ähnliche Sagen, in denen der böse Keremet dem guten Gott Inmar gegenübersteht (Veselovskij, S. 13).


4. Die Mansi.

Kors-Torum befahl dem Vogel Luli, vom Meeresboden Sand heraufzuholen. Erst beim dritten Male gelang es dem Vogel, etwas Erde zu bringen. Er verschluckte sich aber dabei, und alles flog aus dem Munde heraus. Infolge der Anstrengung floß aus dem Halse Blut, weshalb der Vogel auch jetzt noch einen roten Kopf hat. Der Taucher (Gagara) kam geflogen und lachte Luli aus. Gagara tauchte nun selbst ins Meer hinunter, kam aber beim dritten Male tot herauf. Luli legte Gagaras Kopf sich auf den Rücken, wodurch Gagaras Kropf auch blutig wurde (er ist noch heute blutig), und rief Gagara ins Leben zurück. Aus der von Luli geholten Erde wurde die ganze Erde geschaffen, zugleich auch Helden, die sich befehdeten. Numi-Torum, dem Sohn des Kors-Torum, gelang es[62] nach zwei vergeblichen Versuchen, Menschen zu schaffen, indem er ein Gerüst aus Weiden flocht, es mit Lehm vollschmierte und es anhauchte. Zugleich schuf er aus Kiefernzweigen die Vögel und Tiere.3


  • Literatur: Veselovskij, S. 15–17.

5. Die Wogulen.

In dem ersten Jahrgang der »Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn« (1891) teilt Munkácsi folgende kosmogonische Sage der Wogulen mit:


Tundrahügels Frau und alter Mann lebten. Sie haben einen schneeweißen Raben. Beiderseits des Hauses ist überall Wasser, Erde ist keine. Der Alte geht nicht aus dem Hause; die Außenwelt, wie sie gestaltet, er weiß es nicht. Wie sie so leben, erschallt auf einmal aus dem oberen Himmel irgendein Geräusch. Der Alte schaut zum Fenster hinaus: also von obenher aus dem Himmel kommt ein eiserner Tauchervogel. Erde zu suchen, taucht er ins Wasser. Er ging und ging umher, er tauchte auf, er hatte keine Erde gefunden. Er schöpfte Atem und tauchte wieder ins Wasser. Er ging und ging umher, er tauchte auf, wieder vergebens, Erde gibt's keine. Ein wenig atmete er und tauchte zum drittenmal unter. Als er auftauchte, holte er so stark Atem, daß ihm unten die Kehle barst; an der Schnabelwurzel hatte er ein Bröcklein Erde. Er schwang sich auf und stieg damit gen Himmel.

Die Frau und ihr Alter legten sich nieder. Morgens, als sie aufstehen, erschallt wieder ein Geräusch aus dem Himmel. Als der Alte hinausschaut, steigt ein eisernes Seehuhn vom Himmel, taucht ins Wasser. Es ging und ging herum, als es auftauchte, hatte es nichts, ganz und gar nichts. Ein wenig holte es Atem und tauchte wieder ins Wasser. Wieder ging und ging es, als es auftauchte, hatte es wieder nichts. Ein wenig holte es Atem, und noch einmal, zum drittenmal, tauchte es nieder. Als es auftauchte, holte es so stark Atem, daß ihm der Scheitel barst; an der Schnabelwurzel steht ein ziemliches Stückchen Erde. An die Ecke jenes Tundrahügel-Hauses rieb es den Schnabel, dann flog es gen Himmel.

Die Frau und ihr Alter legten sich nieder. Morgens, als sie aufstanden, war die Erde fußsohlenbreit geworden. Andern Tages, als sie aufstanden, reichte die Erde schon bis zum Gesichtskreis, so sehr hatte sie sich vergrößert; am dritten Tage, als die Frau und ihr Alter zum Fenster hinaussehen, gibt's kein Wasser, überall hatte es sich in Erde verwandelt. Zu seinem schneeweißen Raben sprach der Alte: »Geh nur, sieh, wie groß die Erde geworden!« Der Rabe entfernte sich, blieb eine kleine Stunde weg, so groß war die Erde schon geworden. Die Frau und ihr Mann legten sich nieder, sie standen wieder auf, sie schicken den schneeweißen Raben wieder aus, die Größe der Erde anzusehen. Der schneeweiße Rabe kam von seinem Fluge erst um Mittag heim, so groß war die Erde schon geworden.[63] Am dritten Tage standen sie auf, sprachen wieder zum Raben: »Geh nur, sieh, wie groß die Erde geworden ist!« Von seinem Fluge kehrte er gar nicht zurück; so wurde es Abend. Zur Zeit des Niederlegens kam auf einmal der schneeweiße Rabe nach Hause, in schwarz verwandelt. Der Alte spricht zu seinem Raben: »Du hast auf deinem Fluge was angestellt!« – Der Rabe spricht: »Was hab' ich angestellt? Ein Mensch ist gestorben, von dem habe ich gegessen, deshalb bin ich schwarz geworden!« – »Hast du Menschen gegessen, so fort mit dir von hinnen! Beim Eintritt der Welt des Menschenzeitalters (d.h. wenn die richtigen, späteren Menschen leben werden) sollst du allein nicht vermögen, Tiere des Waldes zu töten, sollst du nicht vermögen, Fische des Wassers zu töten; wo der Mensch irgendein Waldtier getötet, dort am blutigen Ort sollst du dein Herz (deinen Hunger) stillen; an manchem Tage sollst du dich hungrig niederlegen.« Der Rabe ging hierauf in den Wald und lebt dort bis auf den heutigen Tag.


Was das Ausfliegen des Raben und seine Verfluchung anlangt, so findet sich dasselbe in einer Sündflutsage (s. das betr. Kap.), in der der Rabe von einem Leichnam zehrt, das Wiederkommen vergißt und schwarz wird. Man ist versucht, eine Verpflanzung aus der einen Sage in die andere anzunehmen. Vermutlich hat aber die kosmogonische Sage ebenfalls einen Raben gehabt, der dann mit dem der Sündflutsage verwechselt wurde. Zum Beweise dieser Annahme muß ich etwas weiter ausholen und die Fortsetzung der wogulischen Sage mit einer amerikanischen Sage vergleichend anführen.

Nachdem erzählt ist, daß die Alte einen Sohn, Tari-pēs-ñi-māl'ä-saw gehören hat, und dessen Abenteuer berichtet sind, heißt es weiter:


Wie er (Tari-pēs ...) so geht ... kommt er an eine Leiter, ihr oberes Ende geht aufwärts gen Himmel ... Er stieg die Länge dieser Leiter entlang aufwärts. Hierauf gelangte er in den Himmel ... (kommt zum Mondschein-Alten, zur Sonnenfrau). Er spricht zur Sonnenfrau: »Laß mich die Sonne tragen!« Die Sonnenfrau spricht: »Du wirst sie vielleicht gut tragen?« – »Warum sollte ich sie schlecht tragen, ich trage sie gerade so gut wie du!« Die Sonnenfrau spricht: »Dein Vergnügen, wenn du sie gut tragen wirst, also trage sie!« Tari-pēs packte die Sonne an und begann sie zu tragen. Er sieht hinab: auf der Erde (im unteren Himmel) ist all das liebe Volk einäugig, krummmäulig. An[64] einem Orte raufen sich zwei Menschen, sie schlagen sich blutig. Tari-pēs denkt: »Eh, wenn ich dort wäre, diese Nichtsnutzigen und ihre Rauferei würde ich bald in Ordnung bringen.« Wie er dies dachte, brachen jene Dinger zusammen und starben. Dann setzt er wieder seinen Weg fort. Da blickt er wieder einmal abwärts, (da sieht er, daß) zwei Frauen einander herumzerren, beschimpfen: »Eh, wenn ich dort wäre – ihrer Mutter Schöpfung! – Ich würde sie schon Ordnung lehren.« Diese Teufel brachen zusammen und starben. Er setzte seinen Weg fort. Lange oder kurze Zeit geht er, auf einmal gelangte er! zur Sonnenfrau. Die Sonnenfrau sagte: ihm: »Also ist es dir gut gegangen?«: – »Es ist mir gut gegangen.« – »Hast du nichts Schlechtes gemacht?« – »Ich habe nichts gemacht.« Die Sonnenfrau spricht: »Tari-pēs, wenn du die Sonne tragen würdest, dann gäbe es keinen aufrechtstehenden Menschen, du würdest sie alle töten; – warum hast du diese vier Menschen getötet?« Tari-pēs antwortet: »Sie raufen, beschimpfen sich; ich habe nur an sie gedacht, und sie brachen zusammen.« Die Sonnenfrau spricht: »Einmal (= einst), beim Anbruch der Menschenalter-Welt, der Menschenzeit-Welt, auf diese Weise tötest du (= würdest du töten) alle Menschen.«[65]


Bei Boas, indianische Sagen, S. 246, findet sich folgende Sage der Bilqula, die übrigens nur ein Typus für viele ähnliche ist:


Snq, die Sonne, hatte einen Sohn namens T'ōt'k·oa'ya, der mit seiner Mutter in einem Dorfe wohnte. Die Knaben des Dorfes lachten ihn einst aus, weil er keinen Vater habe. Daher beschloß er, seinen Vater im Himmel zu besuchen. Er nahm seinen Bogen und seine Pfeile und schoß einen Pfeil gen Himmel, wo er stecken blieb. Alsdann schoß er einen zweiten Pfeil ab, der die Kerbe des ersten traf. So fuhr er fort, bis eine Kette gebildet war, die vom Himmel zur Erde herabreichte .... Er klettert hinauf, findet Snq, dieser sagt: »Ich bin alt, hinfort trage du die Sonne an meiner Statt. Aber achte auf, gehe geradeaus und beuge dich nicht nieder, sonst wird die Erde verbrennen.«[64] T'ōt'k·oa'ya versprach es und ging morgens langsam und ruhig den Himmel hinauf. Gegen Mittag aber beugte er sich nieder, um sich auf Erden umzusehen. Da wurde es sehr heiß hienieden. Die Felsen zerbarsten, und das Meer fing an zu kochen und bedeckte das ganze Land. Die Menschen retteten sich in ihre Boote, aber viele kamen um, andere wurden verschlagen. Die Bergziegen versteckten sich unter Steinen, daher blieben sie weiß, während alle anderen Tiere dunkel gebrannt wurden. Als Snq nun sah, was T'ōt'k?oa'ya anrichtete, ergriff er ihn und riß ihn in Stücke, die er zur Erde hinabschleuderte. Dort wurden sie in Minke verwandelt.


Die Ähnlichkeit beider Sagen deutet auf Verwandtschaft hin, was sich im folgenden in eingehender Beweisführung bestätigen wird. Nun findet sich aber auch bei den Indianern das Aussenden des Raben, und zwar in der durchaus unverdächtigen Rolle, die auch andere Tiere haben: die Größe der Erde auszumessen; wenn diese noch nicht genügt, umschreitet sie der Schöpfer und macht sie dadurch wachsen. Somit ist der Schluß gestattet, daß gleich dem zweiten Teil unsrer Sage auch die Aussendung des Raben bei Indianern und Wogulen ähnlich gemeint gewesen sei. Der Rabe gehört also in die kosmogonische Sage als Ausmesser der Erdgröße. Auf welche Weise man die Ähnlichkeit, die er mit Noahs Raben hat, erklären soll, läßt sich nicht sagen. Es ist nicht einmal gewiß, wer von beiden dem andern nachgebildet ist.[65]

In der Revue de Philologie et d'Ethnographie Bd. I, 1874 p. 9 findet sich folgende von Lucien Adam ins Französische übersetzte Variante:


Droben der Gott Numi târom, unten der Ozean, und in einer Wiege (Bogenlaube) von Silber, die an Eisenketten über dem Abgrund hängt, ein männliches und ein weibliches Wesen, die aber keine Menschen sind, das ist die Situation zu Anfang der wogulischen Schöpfung. – Numi târom hat die Winde entfesselt, die die Wellen des Meeres erregen und mit der ihrem Ungestüm überlassenen Wiege spielen. Eins der beiden Wesen bittet Numi târom, ein Stückchen Erde zu schaffen, das ein Haus tragen könne. Numi târom bewilligt ihre Bitte, und die beiden nehmen Besitz von ihrer irdischen Wohnung, in der sie bleiben, bis sie das Alter herannahen fühlen ... Die Frau entfernt sich eine Zeitlang, kommt dann wieder und teilt dem Manne mit, daß sie einen Sohn der Luft in ihrem Schoße trage, und der Mann ruft freudig aus: Gott unser Vater hat uns einen Sohn gegeben. Darauf wird Elempi geboren. Elempi wächst auf und teilt den beiden den Entschluß mit, Numi târom aufzusuchen. Er verwandelt sich in ein Eichhörnchen, klettert die Stufen zu Numi târom hinauf und teilt ihm mit, daß die Sorge um das Schicksal der Menschen ihn herführe, die nicht auf dem von Numi târom geschaffenen Ozean leben könnten. Elempi empfängt darauf eine Entenhaut und eine Gänsehaut, und Numi târom trägt ihm auf, die den Menschen bestimmte Erde selber aus dem Wasser zu holen.

Elempi tut die Entenhaut um, taucht unter und versucht dreimal den Meeresgrund zu erreichen, und dreimal treibt es ihn wieder an die Oberfläche. Da tut er die Gänsehaut um, und mit Hilfe dieses Talismans gelingt es ihm, drei Hände voll Erde vom Meeresgrunde loszulösen, die sich in Berge, Wiesen, Flüsse und Seen verwandeln. – Nun ist die Wohnung für den Menschen bereit, aber sie schwimmt auf dem Wasser, und Elempi sieht, daß er sie befestigen muß. Er sucht Numi târom wieder auf, berichtet ihm alles und fragt ihn, wie er die Erde unbeweglich machen könne. Numi târom gibt ihm einen Gürtel mit Silberbeschlägen = das Uralgebirge, und der Demiurg umgibt mit diesem Talisman die Erde, die sogleich aufhört, auf dem Wasser zu treiben.

So wird die Schöpfung durch die Macht Numi târoms und die Bitte Elempis vollbracht. Der Demiurg stellt die Probleme, und der Gott löst sie.

An die Schöpfung der Welt schließt sich die der Menschen, Vierfüßer und Vögel an. Elempi bildet diese drei Arten aus Erde und Schnee. Er empfängt drei Fische von Numi târom, mit denen er die Gewässer bevölkert, damit die Menschen etwas zu essen haben. Elempi lehrt den Menschen Pfeile, Jagdnetze und Fellkleidung zu verfertigen. Die Ehe wird eingeführt, und die Menschen vermehren sich, so daß sie schon die ganze Erde bedecken. Elempi fragt um Rat, Numi târom antwortet: Nimm Kuly-ater mit dir, er wird Leiden und Krankheit bringen, ein Teil des Volkes wird sterben und der andere dadurch gerettet werden.


Eine andere Wogulensage führt Strauß, S. 14, an:


Im Anfang gab es weder Himmel noch Erde, sondern nur endloses Wasser, und auf dem Wasser Wolken. Auf der Wolke saß der Herrgott Szavaoth. Da hustete einmal Gott und spie auf das Wasser. Auf dem Wasser bildete sich daraus eine kleine Blase, aus der ein leiser Ton hör bar ward. Die Blase wurde immer größer und größer, und damit wuchs auch der Lärm. Als der[66] Lärm schon so groß wurde, daß man ihn auch auf der Wolke hören konnte, da fragte Gott: »Wer lärmt dort in der Blase?« Aus der Blase kam die Antwort: »Ich, Satanail!« Gott sprach: »Komm hervor aus jener Blase und setz dich neben mich auf die Wolke, reden wir miteinander!« Satanail kam aus der Blase hervor und ließ sich neben Gott auf die Wolke nieder. Sie begannen miteinander zu reden. Als sie schon über alles mögliche geredet hatten, fragte Gott den Satanail: »Könnten wir nicht irgendwie die Erde erschaffen?« Satanail bejahte die Frage, nur müßte man Erdsamen unter dem Wasser herschaffen. »Und wie könnte man diesen Samen sich verschaffen?« fragte Gott. »Ich werde solchen holen,« sprach Satanail und tauchte unter das Wasser. Nach kurzer Zeit kehrte Satanail zurück und brachte an seiner Fußsohle Erde, sowie auch in seinem Munde. Die an der Sohle gebrachte Erde übergab er Gott; die er aber in der Backe gebracht hatte, die verleugnete er; denn er wollte für sich irgendwo Erde säen und eine Welt für sich selber erschaffen. Gott streute die von Satanail gebrachte Erde aus, und diese begann zu wachsen. Zu gleicher Zeit begann auch die Erde in Satanails Backe zu wachsen, wodurch sein Gesicht sehr anschwoll. Gott bemerkte dies und fragte ihn: »Was ist das da, Satanail?« – »Nun, ich habe mich angestoßen, und davon ist es mir angeschwollen,« versetzte Satanail. Aber die Geschwulst wuchs immer mehr, so daß er schließlich den Grund davon nicht mehr verheimlichen konnte. Satanail gestand, daß er in seine Backe Erde versteckt habe, und sagte auch, warum er dies getan habe. Mit schwerer Mühe nahmen sie die Erde heraus und streuten sie auf die bereits entstandene flache Erde: aus ihr entstanden die Berge. – Die Zeit verging. Die Erde wuchs fortwährend. Als sie schon einen großen Umfang hatte, stieg Gott mit Satanail von der Wolke herab, und sie begannen auf der Erde zu wohnen. Von nun an benützten sie die Wolke nur zu großen Reisen und damit sie sich auf ihr in die Höhe erhöben. Damit Gott die Zahl der Lebenden auf Erden vermehre, nahm er zwei Steine und schlug diese zweimal aneinander. Auf den ersten Schlag kam der Erzengel Michail, auf den zweiten der Erzengel Gavril hervor. Satanail beneidete deshalb Gott und wollte sich auch Diener erschaffen. Auch er nahm zwei Steine und begann sie aneinander zu schlagen. Auf jeden Schlag kam ein Teufel hervor. Nachdem er aber die Steine fortwährend aneinander schlug, so entstanden gar viele Teufel. Gott ärgerte sich nun darüber, daß sein Gefährte keine Grenzen in der Erschaffung seiner Wesen kannte, und verbot ihm die fernere Erschaffung der Teufel. Satanail aber machte seiner Arbeit nur dann ein Ende, als er nach langer Anstrengung wahrnahm, daß seine Steine die schöpferische Kraft verloren hatten. – Gott setzte sich mit seinen Erzengeln auf die Wolke, und sich hoch über die Erde erhebend, erschuf er den Himmel. Satanail machte mit seinen Teufeln einen zweiten Himmel, der höher war als der Gottes. Dieser wollte nicht niedriger als Satanail wohnen und erhob sich noch höher und erschuf einen dritten Himmel. Hierauf erhob sich Satanail noch höher und erschuf einen vierten Himmel. Auf diese Weise miteinander wetteifernd, erschufen sie neun Himmel übereinander, als Satanail, damit er höher sei, auch den zehnten zu erschaffen begann. Aber dies konnte Gott nicht länger dulden und befahl seinen Erzengeln, daß sie den Satanail und seine Teufel aus dem Himmel herabstoßen sollten. Satanail und seine Teufel fielen auf die Erde herab. Jeder bekam seinen Namen von dem Orte, wohin er fiel: der in den Wald fiel, aus dem wurde der Waldteufel; der ins Wasser fiel, der wurde der Wasserteufel usw.[67]


Auch die Samojeden haben (nach Veselovskij, S. 18) eine ähnliche Sage. Sieben Männer retten sich in einem Boot aus der Sündflut und lassen den Taucher (gagara) tauchen, um Erde zu bringen. Der Vogel bringt sie nach sieben Jahren, die Menschen werfen sie ins Wasser, und es entsteht die Erde.

Fußnoten

1 Keremet ist der Bruder Yumas, der ihn wegen seines Übermutes aus den Himmeln herabwarf. Strauß, S. 17.


2 Vgl. die Sagen vom Teufel in der Blase = Ei.


3 Zur Schöpfung der Tiere und Menschen vgl. folgende Variante: Ein Riese vernichtete, um den Tod Beines Vaters zu rächen, alles Lebende; trotzdem er immer mehr tötete, kamen immer neue Lebewesen, da Numa zwei Himmelsschmieden befohlen hatte, zu schmieden, und zwei Bauleuten, zu hobeln. Aus den Funken und Spänen entstanden neue Menschen. Da der Riese immer weiter tötete, blies ihn Numa in den Himmel, wo er zur Abend- bzw. Morgenröte wurde. Da er ganz blutig war, so ist die Morgen- und Abendröte immer rot.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 68.
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