1. Sage vom Holzwurm.

Wie Salomo auch nach seinem Tode die Dschinnen in Dienstbarkeit erhielt, darüber berichtet die Sage folgendes:


Salomo, eingedenk der Verheißung Gottes, daß auch nach seinem Tode der Bau des Tempels von den Dschinnen vollendet werden sollte, nahm eine Stellung an, wodurch er auch als tot noch auf dem Throne aufrecht stehend und den unbändigen Dschinnen als noch lebend erscheinen möge. Er legte[321] seine beiden Hände hinter den Rücken und stützte dieselben sowohl, als die ganze Last des Körpers von rückwärts auf den Stock1, dem ein fester Standpunkt auf dem Boden des Thrones zur Stütze diente. So stand er aufrecht, ohne daß Menschen, Vögel oder Dschinnen, deren keiner, ohne gerufen zu sein, dem Throne nahen durfte, von seinem Tode den geringsten Argwohn hatten. Denn wäre sein Tod ruchbar geworden, sogleich wäre das Reich, das er mit starker Hand zusammenhielt, in sich zerfallen, die unbändigen Dämonen hätten sich zur Stunde entjocht, und der Bau des Tempels, an dem sie fortarbeiten sollten, wäre unvollendet geblieben. So aber herrschte Salomo noch nach seinem Tode über dieselben, durch die bloße Meinung, daß er noch im Leben sei, durch die Furcht vor seiner Macht.


  • Literatur: Hammers Rosenöl, S. 255.

Hier knüpft nun die Ätiologie an. Bei Kalonymus (S. 175 u. 193) heißt es, wie folgt:


Der Holzwurm baut auf sich selbst aus Lehm ein Haus2, wie ein Himmelbett oder eine Decke, ohne daß er Staub dazu sammelt oder Wasser (zum Befeuchten des Staubes) schöpft. Woher hat er diesen Lehm? Es wird erzählt, daß die Genien ihm diesen Lehm zutragen, um ihm die Liebe und Güte zu vergelten, die diese Würmer ihnen dadurch erzeigten, daß sie den Riegel3 zerfraßen, mittels dessen Salomo, der Sohn Davids, sie eingeschlossen hatte. Dadurch erkannten nämlich die Genien, daß Salomo gestorben war, ergriffen die Flucht und entrannen großer Pein.


Der Araber Tabarî erzählt (I, S. 456) Ähnliches:


Als Salomo gestorben war, kam die weiße Ameise, die das Holz zernagt, aus der Erde heraus und benagte den Stock. Sie nagte jeden Tag etwas, und da der Stock sehr groß war, dauerte es ein Jahr, bis sie den Stock zernagt hatte. Nach einem Jahre4 hatten die Dîos (Djinnen) den Tempelbau beendet, der Stab zerbrach, und Salomo fiel (Koran, Sur. XXXIV, v. 13). Jetzt wird nun immer dort, wo die weiße Ameise Holz nagt, das Loch von den Dîos und Peris mit Lehm und Wasser ausgefüllt, und so wird es bis zum jüngsten Tage bleiben. Es geschieht dies aus Dankbarkeit gegen die, die sie von Salomo befreit hat.

Fußnoten

1 Koran, Sure 34, 15.


2 Der Holz- oder Nagewurm findet sich häufig im Orient, wo er sich in den Ecken der Keller und Gemächer seine Lehmbehausung errichtet.

Dieterici, Mensch und Tier, S. 290.


3 Diese Übersetzung des Kalonymus verdirbt nach Landsberger S. 271 den Wortlaut des arabischen Originals, wonach sie den Stab S.'s zerfraßen, daß er (S.) nach vorn fiel.


4 Vgl. Hammer, Rosenöl, S. 256–257. Die Dschinnen hoben den entzweigefressenen Stab auf mit dem Würmchen und beobachteten einen ganzen Monat lang, wieviel das Würmchen fresse. Aus dem, was es binnen einem Monat gefressen hatte, berechneten sie, daß es deren zwölf gebraucht habe, den Stab durchzufressen, und daß Salomo also schon seit einem Jahre gestorben sein müsse.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 322.
Lizenz:
Kategorien: