III. Blumenlegenden.

1. Die Marienblume (Gänseblümchen, Maßlieb).

[80] a) Als das Jesuskindlein drei Jahre alt war, wollte ihm die Mutter Maria einen Kranz zum Geburtstage schenken. Aber um die winterliche Weihnachtszeit war nirgend ein Blümchen zu finden, das sie zum freundlichen Kranze verwenden konnte; und gemachte Blumen gab es in dem kleinen Nazareth ebensowenig. Da entschloß sich die liebende Mutter, selbst einige anzufertigen. Mit stiller Sorgfalt saß sie über ihrer Arbeit und stickte und flocht allerlei Blümchen, groß und klein, wie ihr Sinn sie lehrte. Vor allen zeichnete sich eins aus durch seine Schönheit und Pracht. Sie hatte dazu ein Stückchen prächtiger, goldgelber Seide genommen, das noch von ihrem königlichen Stammvater David herrührte, und rund um dieses gar zierlich dicke Fäden weißer Seide gereiht. Bei der Befestigung der einzelnen Fädchen hatte sie sich mit der Nadel ein wenig verletzt, und feine Blutstrahlen waren auf die blendendweiße Seide gefallen, wodurch sie an einigen Stellen rötlich schimmerte. Als das Knäblein die Blume sah, wurde es wehmütig bewegt und erkor sie sich zu seiner Lieblingsblume. So lange der Winter dauerte, bewahrte es sie wie ein Heiligtum auf. Als aber der Lenz gezogen kam, nahm es sie und pflanzte sie ins Tal von Nazareth. In seliger Freude griff es alsdann zu seinem goldenen Becher, den ihm die Weisen aus dem Morgenlande geschenkt hatten, lief zu einer nahen Quelle, schöpfte daraus und tränkte das Blümchen mit dem frischen Wasser und hauchte es mit seinem göttlichen Munde an. Da wuchs es in stiller Pracht, es überzog alle Weltteile und schmückte Wiese und Feld.

Und von da an blüht es nun unaufhörlich fort vom ersten Frühlinge bis zum letzten Tage des kalten, stürmischen Herbstes. Jung und alt freuen sich seiner, und man nennt es Marienblümchen.


  • Literatur: Warnke, Die Pflanzen in Sagen und Geschichte S. 153, daraus: Söhns, S. 35 f. = Colshorn, Märchen S. 356.

b) Eine andere Legende erzählt, Maria habe zur Winterszeit, als draußen kein Blumenspielwerk zu finden war, dem kleinen Jesusknaben zum Zeitvertreib Abschnitzel von dem weißen Linnen ihrer Näherei gegeben. Aus denen schnitt er Blümchen und streute sie über das Feld, damit sie dort Sommer und Winter fortblühen sollten. Es waren die Gänseblümchen, sie wurden die Lieblinge aller Welt.


  • Literatur: v. Strantz, Die Blumen in Sage und Geschichte 1875, S. 226.

2. Die Aster.

Als das Jesuskindlein in Nazareth zwischen den übrigen Kindern aufwuchs, schickte ihm Gott einen Engel, der mit ihm spielen und ihm von dem himmlischen Vater erzählen sollte.

[80] Nun war auch öfter der kleine Johannes, der von Gott gesandt war, daß er auf Jesus als den Messias hinwiese, bei den Eltern Jesu zu Besuch und hatte den Weltheiland zum Spielgefährten. In traulichem Geplauder erzählte ihm der Jesusknabe, was er von dem Engel gehört hatte. Er habe viele glänzende Blumen, die am Himmel prangten, die aber von den Menschen Sterne genannt würden. Und dann schenkte er ihm ein hellschimmerndes Samenkorn. Johannes eilte freudig zu seinem kleinen Gärtchen, pflanzte das Korn ein und erzählte hochbeglückt den anderen Kindern, er habe einen Stern in seinen Garten gesät. Als nun der Herbst nahte, sproßten an der Stelle wunderschöne Pflanzen, die Blumen wie Sterne trugen. Jubelnd nannten die Kinder sie Astern oder Sternblumen, und den Namen behielten sie bis auf den heutigen Tag.


  • Literatur: Warnke, Die Pflanzen in Sage u. Gesch., S. 200.

3. Die Malve.

Aus Malta.


Als Jesus noch klein war, geschah es einst, daß seine Mutter ihm kein Brötchen geben konnte. Der Bäcker wollte nicht mehr borgen, da sie ihre kleine Schuld nicht zu begleichen wußte, denn sie waren sehr arm. Da sagte Jesus zu ihr: »Was für ein Kraut blüht dort vor unserer Hütte?« Seine Mutter nannte ihm die Malve, und er riet ihr: »Brich einen der Stengel und bezahle damit den Bäcker. Er soll für jedes Brot ein goldenes Brötchen finden.« Ohne Widerrede brach die Mutter Maria einen Malvenstengel und begab sich zum Bäcker. Der aber schrie erbost: »Solches und ähnliches Kraut wächst mir gerade genug. Was soll ich damit?« Doch plötzlich gewahrte er, daß an dem dicht mit Blättern besetzten Stengel goldene Klümpchen hingen, die die Gestalt von zierlichen, kleinen Brötchen hatten. So dankte er demütig und schenkte der Mutter Maria noch obendrein etliche Brote. Seit dieser Zeit bringt das Kraut kleine Brötchen hervor, die den Hunger sehr gut stillen. Sie heißen hobbeiza, Blumenbrötchen.


  • Literatur: Bisher ungedruckt. Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 80-81.
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