4. Kapitel.

Jesu Kindheit.

[70] »Ursprünglich ist die naive Freude des Volkes daran, es sich auszumalen, wie mitten in seinem Alltagsleben, mit seinen vielen Hindernissen und Mühseligkeiten auch für Kinder, sich ein Wunderknabe ausnehmen müßte, der alles das spielend überwindet. So denken Kinder oft, und die Alten setzen solche Kinderträume gerne fort. Auch das deutsche Märchen erzählt mit großem Behagen von dem Jungen, der sich an der Milch eines Riesen stark getrunken hat, wie er den Eltern unheimlich wird, wie er schwere Arbeiten im Umsehen verrichtet, ungeheure Mengen Speise vertilgt und seinen Amtmann mit einem Schlage in die Luft befördert. Mit solcher Lust des Fabulierens verbindet sich dann die Poesie der Naturbetrachtung .... Daher werden Geschichten wie die von Christi oder Buddhas Kindheit an verschiedenen Orten entstanden oder hin- und hergewandert sein und mancherlei wechselnde Gestalt angenommen haben; wo sich ein Gott und Halbgott oder ein Heiliger auf Erden findet, hängen sie sich an ihn, oft unbekümmert darum, ob sie zu dessen ursprünglichem Charakter passen. Da entstehen dann Miß verhältnisse, die aber von den Erzählern nicht gespürt werden; daneben aber werden sie eben auch recht absichtsvoll verwertet und ausgedeutet ... Der Wunderknabe in der Kindheitsgeschichte von Thomas dem Israeliten wird zum Gnostiker, der die jüdische Religion gründlich verachtet. Denn für die Gnostiker bestand der Wert solcher Kindheitswunder in dem Nachweis, der sich daraus führen ließ: daß Christus nicht zu dieser Welt gehöre, daß er schon als Kind menschlicher Entwicklung und Bedingtheit enthoben war und jeden menschlichen Lehrer belehren konnte. Trotzdem wundert man sich, daß diese Leute, die übergeistig in subtilen Spekulationen zu schwelgen lieben, an solch kindischen Geschichten ihre Freude gehabt, ja sie wohl gar erfunden haben sollen. Man möchte annehmen, daß sie Geschichten, die eine unheilige Geschwätzigkeit zur Lust für große und kleine Christenkinder harmlos erfunden, schon vorgefunden und ausgebeutet hätten.« Hennecke, Neutest. Apokr. S. 64. Ebendort S. 65 wird die Herkunft des Stoffes dieser Kindheitsgeschichte aus Indien wahrscheinlich gemacht. Die Gnostiker, die Fühlung mit allerlei volkstümlichem, namentlich orientalischem Glauben und Aberglauben hatten, haben sich dieses Stoffes bemächtigt und ihn in ihrer Weise benutzt und fortgebildet.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 70-71.
Lizenz:
Kategorien: