III. Verschiedenes.

[308] 1. Sagen der Aino.


a) Wenn die Sonne »am Ende der Welt«, d.h. im Osten, aufgeht, kommt ein Teufel, um sie zu verschlingen; aber dann wirft ihm jemand zwei oder drei Krähen oder Füchse ins Maul. Inzwischen steigt die Sonne in die Höhe.

Die zahlreichsten Geschöpfe in der Welt sind nämlich Krähen und Füchse. Das ist nun einmal so. Zur Belohnung für diesen Dienst können Krähen und Füchse alles essen, was auch die Menschen essen. (Von der Insel Yezo.)


  • Literatur: A. Seidels Anthologie aus der asiatischen Volksliteratur, S. 8.
    (Aus Basil Hall Chamberlain, Aino Folklore und Folk-Lore Journal 6.) Vgl. Bd. 1, 145.

b) Die Kinder der Eule (des Eulengottes) und der Seeschildkröte (des Schildkrötengottes) sollen sich verheiraten. Die Schildkröte will ihnen als Nahrung Fische[308] aus der See in den Fluß schicken. Darum frißt die Eule noch jetzt die Fische, die in den Fluß kommen.


  • Literatur: Chamberlain, Arno Folklore und Folklore Journal 6, 9.

2. Aus Nordindien.


Es gibt einen Aberglauben, daß Gott dem Tiger für eine Rupie täglich Nahrung erlaubt. Wenn er nun einen Ochsen im Werte von fünf Rupien tötet, so tötet er fünf Tage lang nichts; ist das Tier zehn Rupien wert, zehn Tage lang usw.


  • Literatur: North Indian Notes and Queries ö, 133.

3. Sage der Somali.


Der Rabe und die Vögel hielten Rat und sprachen zusammen. Nach manchem Hin- und Herreden sagte der Rabe zu ihnen:

»Hört zu und setzt euch!«

»Was willst du uns vorschlagen?« fragten ihn die Vögel.

»Daß alle, die kleiner sind als ich, Kräuter fressen sollen, und alle, die größer sind, Fleisch.«

Der Vorschlag wurde angenommen, und seitdem nährt sich der schlaue Rabe sowohl von Kräutern als von Fleisch, ohne der Übereinkunft zuwider zu handeln.


  • Literatur: Basset, Contes d'Afrique p. 108 (Aus Schleicher, Die Somalisprache, 1892, S. 4).

4. Sage der Fiote (Kongomündung).


Es war einmal ein Huhn, das pflegte jeden Tag zum Ufer des Flusses hinunterzusteigen, um dort Nahrungsabfälle aufzusammeln. Eines Tages kam ein Krokodil in seine Nähe und drohte, es zu fressen. Da rief es: »Oh, Bruder, tue es nicht.« Das Krokodil war so überrascht und verwirrt durch den Ruf, daß es fortging, weil es dachte, daß es wohl sein Bruder sein könne. Eines Tages kam es wieder an den Fluß, fest entschlossen, das Huhn zu verzehren. Das rief wieder: »Oh, Bruder, tue es nicht.« »Verdammt sei das Huhn!« schalt das Krokodil, als es wieder davonging. »Wie kann ich sein Bruder sein? Es lebt auf der Erde, und ich lebe im Wasser.« Da beschloß das Krokodil Nzambi aufzusuchen, um die Frage zu entscheiden. Es machte sich auf den Weg. Es war noch nicht weit gegangen, als es seinen Freund Mbambi (eine Art große Eidechse) traf. »Mbambi,« sagte er, »ich bin sehr bekümmert. Jeden Tag kommt ein hübsches, fettes Huhn an den Fluß, um zu fressen, jeden Tag, wenn ich es ergreifen, forttragen und mich davon nähren will, erschreckt es mich, indem es mich Bruder nennt. Ich kann es so nicht länger aushalten, und ich will Nzambi aufsuchen, um eine Beratung mit ihm zu halten.« »Du Dummkopf,« sagte Mbambi, »tue nichts dergleichen, denn du würdest nur Worte verlieren und deine Unwissenheit zeigen. Weißt du nicht, liebes Krokodil, daß die Enten im Wasser leben und Eier legen, daß die Schildkröten dasselbe tun? Auch ich lege Eier. Das Huhn auch und du auch, mein dummer Freund. Wir sind also gewissermaßen alle Brüder.« – Darum frißt das Krokodil das Huhn nicht.


  • Literatur: R. Basset, Contes d'Afrique p. 378 (Aus Dennett, Notes on the Folklore of the Fjort, p. 106.)

5. Aus Kairo.


Es war einmal eine Schlange von ungeheurer Größe. Die Frau dieser Schlange wurde von den Schlangenjägern gefangen und fortgetragen. Darauf ging die Schlange zum Hof des Sultans, der sehr erstaunt war, ein so ungeheures Tier zu sehen. Er[309] fragte, was es wolle. Es sagte nichts und stand nur auf. Da riet der Wesir, man solle alle Schlangenjäger mit ihren Schlangen bringen. Als sie kamen, sah das Tier seine Frau, glitt zu ihr hin, und sie küßten sich. Dann verließen sie den Hof, aber die Schlange kam bald wieder mit etwas Fruchtfleisch, das sie dem Sultan gab. Der wußte nicht, was es sei, aber die Schlange sagte ihm, er solle es auf die Erde legen. Das tat er, und eine Wassermelone wuchs daraus. So entstand die Wassermelone, und darum lieben die Schlangen sie auch so sehr.


  • Literatur: Folklore 11, 377.

6. Sage der Caingang (Südamerika).


Die Cayurucré machten aus Asche die Tapire (oyoro) und sagten zu ihnen: »Geht und jagt.« Aber diese hatten keine guten Ohren, hörten es deshalb nicht und fragten noch einmal. Die Cayurucré waren sehr beschäftigt, andere Tiere zu machen und sagten darum ärgerlich: »Geht und eßt Blätter und Baumzweige!« Dies hörten die Tapire, und darum essen sie nur Blätter, Zweige und Früchte.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 18, 224.

7. Bulgarische Sagen.


Die Möve hatte sich einmal an Fischen satt gegessen und dann angefangen, mit ihnen zu spielen. Zur Strafe für diese Frechheit verfluchte sie Gott, daß sie täglich nur einen Fisch fange, bisweilen sich mit Fröschen begnüge.


  • Literatur: Strausz, Die Bulgaren, S. 73.

8. Rumänische Sagen.


a) Einst lebte ein Menschengeschlecht, Juden genannt; lauter gewaltige Riesen, die so groß waren, daß sie mit einem Fuß auf einem Berggipfel standen und mit dem anderen auf einem anderen. (Vgl. Bd. 1, 242 ff.) Sie waren aber so böse, daß sie Gott durch eine Wassersflut vernichtete. Ein einziger Riese erhielt sich am Leben (vgl. Bd. 1, 283), er stand mit den Füßen auf zwei Bergen und hielt sich mit den Händen am Himmel fest. Da sandte Gott die. sarcophagae carnariae, die ihm in die Augen stachen, so daß er den Himmel losließ; zwei große Würmer (Maden der sarc. carn.) bissen ihn in die Sohlen, bis er wankte, ins Wasser fiel und ertrank. Seit jener Zeit setzen sich die s.c. auf die toten Menschen, denn Gott erlaubte ihnen, die Leichen der Riesen zu fressen.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 387.

b) Als die Pharisäer über den Tod Christi berieten, wurden sie von der Biene belauscht, die Christus alles wiedersagte. (Vgl. Bd. 1, 2. 43. 129.) Da verfluchte sie einer der Pharisäer und bestimmte, die Menschen sollten in Zukunft ihr die Nahrung wegessen, und sie sollte sich nicht wehren können. Seitdem essen die Menschen Honig und fertigen Wachskerzen.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 142.

9. Estnische Sage.


Es war ein heißer Tag. Die Hirten spielten, und die Herde fraß im Schatten. Eine Bremse, die Hunger verspürte, flog zu einem Ochsen und sagte: »Gib mir einige Tropfen Blut, der Hunger tut weh.« Der Ochs beachtete die Bremse gar nicht.

Da sagte die Bremse: »Sei nicht so hochmütig! Ich werde doch den Sieg über dich gewinnen.« Der Ochs lachte und sagte: »Wenn du wirklich mir überlegen sein solltest, so verspreche ich mein Blut dir und deinesgleichen bis auf den letzten Tropfen.« Sie machten dies feierlich ab, wobei die ganze Herde als Zeuge auftrat.[310] Der Ochs gab der Bremse das Vorrecht, mit dem Kampf zu beginnen, wobei er selbst ruhig zu fressen anfing. Die Bremse umkreiste den Ochsen mehrere Male, was dieser gar nicht beachtete. Die Bremse wurde immer mutiger, und im Nu saß sie im Ohr des Ochsen. Der Ochs schüttelte den Kopf, trampelte mit den Füßen, sprang, lief – alles half nichts, die Bremse saß sicher im Ohr und rief: »Hochmütiger Ochs, der Sieg ist mein; dein Blut gehört mir bis auf den letzten Tropfen.« Erst als sie sich gesättigt hatte, ließ sie ihr Opfer los.

Seit der Zeit saugt die Bremse mit vollem Recht das Blut der Ochsen.


  • Literatur: Aus d. hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

10. Finnische Sage.


Der Hund klagte einstmals vor Gericht wegen seines Futters. Dort wurde ihm das Recht zugesprochen, daß ihm Butter aufs Brot geschmiert werde. Als der Hund nach Hause ging, sprach er immer vor sich hin: »Nicht zu vergessen, Butter auf des Hundes Brot, Butter auf des Hundes Brot, Butter auf des Hundes Brot –« so oft er's nur vermochte. Aber unterwegs tat er einen Fall, und als er sich wieder aufgerichtet hatte, wußte er seinen Spruch nicht mehr. Doch der Fuchs, der fix zur Hand ist und alles zustande bringt, war auch diesmal im Walde in der Nähe und hatte gehört, was der Hund vor sich her geredet hatte. Als er merkte, daß der Hund sich dessen nicht mehr entsinnen konnte, rief er ihm aus dem Walde zu: »Nichts als die Kruste und verbrannte Knochen, nichts als die Kruste und verbrannte Knochen.« Und der Hund sagte wieder vor sich hin: »Nichts als die Kruste und verbrannte Knochen, nichts als die Kruste und verbrannte Knochen,« und wiederholte es, bis er nach Hause kam. Und des Hundes Futter wurde um nichts besser, und seitdem grollt der Hund dem Fuchs.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Herrn Prof. K. Krohn.

11. Vlämische Sage.


Die Katze leidet Not und beklagt sich bei Christus, der auf Erden wandelt, daß sie nicht Nahrung genug habe, ihren Hunger zu stillen. Indem laufen Ratte und Maus vorüber, ohne guten Tag zu sagen. Um ihre Hoffart zu strafen, erlaubt Christus der Katze, fortan Ratten und Mäuse zu fressen.


  • Literatur: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 65.

12. Sizilische Sage.


Als der Herr die Welt schuf und die Tiere, setzte er den Schaden fest, den ein jedes von ihnen täglich tun könnte. Dem Wolf gestattete er nur für 15 Gran (= 31 centesimi) Schaden zu tun.

Eines Tages stieß der Wolf auf eine Eselin, die eben geboren hatte, mit einer Maultierstute. Und er fraß beide, indem er den Schaden anschlug auf 10 Gran für die Eselin und 5 für das Maultier. Als er hiervon eine Abrechnung geben mußte, wiederholte er es so dem Herrn. Dieser, erzürnt über solches Vorgehen, schickte den Wolf fort und wollte ihn nicht mehr sehen.

Daher kommt es, daß der Wolf mehr Schaden anrichtet als andere Tiere.


  • Literatur: Pitrè, Usi e cost. Sicil. 3, 466.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 308-311.
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