A. Redliches Tauschen.

[123] 1. Sage der Cherokee.


Das Waldbahn hatte eine schöne Stimme und war ein guter Rufer beim Ballspiel. Damals spielten nämlich alle Tiere und Vögel Ball und waren auf einen lauten Huf gerade so stolz wie die Spieler von heute. Der Truthahn aber hatte keine gute Stimme und bat daher das Waldhuhn, ihm Unterricht zu geben. Es willigte ein, aber es wollte eine Bezahlung für seine Mühe haben, und der Truthahn war bereit, ihm ein paar Federn zu geben, damit er sich einen Kragen machen[123] könne. Daher hat das Waldhuhn einen Kragen von Truthahnfedern. Es begannen nun die Stunden, und der Truthahn lernte sehr schnell, so daß das Waldhuhn dachte, es sei nun Zeit für ihn, seine Stimme zu probieren. »Ich will mich auf diesen hohlen Klotz stellen«, sagte das Waldhuhn, »und wenn ich das Zeichen gebe und darauf klopfe, mußt du rufen, so laut du kannst.« Es stieg auf den Klotz, um darauf zu klopfen, wie es das immer tut. Aber als es das Zeichen gab, war der Truthahn so eifrig und aufgeregt, daß er seine Stimme gar nicht zum Rufen erheben konnte, sondern nur kollerte. Und seitdem kollert er immer, wenn er ein Geräusch hört.


  • Literatur: Mooney, Cherokee Myths, Smithsonian Institution, Report 19, 281. Wie hier der Truthahn durch Unterricht seine Stimme bilden will, so suchen andere Vögel den Gesang zu lernen, indem sie ihn irgendwo erlauschen; auch hier kommt einer von zwei Vögeln zu kurz. Vgl. das Kap.: Tierstimmen.

2. Das Motiv, daß die Lehrmeisterin als Tauschzahlung Federn erhält, verbindet sich in Mecklenburg mit der ziemlich verbreiteten Sage, wie die Taube das Nestbauen von der Elster erlernt. (Vgl. Kap. 7.)


De Hääster hett jo früher nich so'n hübschen Rock anhatt as nu un hett to de Duw' secht: wenn se em ehren Rock gäben wull, denn wull he ehr dat Nest bugen lihren. Se maken nu'n Akkord dorœwer, un as de Hääster 'n poor Stöcker henlecht hett, secht de Duw': Nu kann 'k 't all. Dor mööt se em lohnen, un dorvon hett de Hääster sinen bunten Rock, un de Duw' klagt: Uf wuf, mien bunte Rock.


  • Literatur: Wossidlo, Volkst. Überlieferungen 2, Nr. 296.

3. Sage aus dem North Riding der Grafschaft York.


Einstmals legte die Ringeltaube ihre Eier auf den Boden, und die Lachmöwe baute ihr Nest hoch. Beide haben aber in aller Freundschaft gewechselt. Und nun singt die Möwe (peewit):


peewit, peewit

I coup'd my nest and I've it.


Die Ringeltaube sagt:


coo, coo, come not now,

little lad with thy gad,

come not now.


  • Literatur: Swainson, British Birds p. 166 = Brockett, Glossary of North-County Words 2, 71.

4. Aus Ungarn.


Im Anfange, als Gott die Welt schuf, aß die Katze Pflaumen, der Hund Pilze. Nach einem Weilchen war es beiden langweilig geworden, und sie wollten tauschen. »Gut«, sprach der Hund, »ich tausche; aber wenn du es wagst, meine Pflaumen anzurühren, so töte ich dich gleich«. »Und ich kratze dir die Augen aus, wenn du das Meine anrührst«, sprach die Katze. So tauschten sie, und keiner wagt von der Zeit an, des anderen Eigentum zu berühren. Die Katze frißt den Pilz, und zwar roh; der Pflaume wagt sie nicht näherzukommen. Der Hund frißt Pflaumen, aber keine Pilze.


  • Literatur: Magyar Nyelvör 14, 188.

5. Aus Griechenland (Patras).


Die Katze hatte eine Rebe, die behütete sie, damit man ihr nicht die Trauben auffräße. Da kommt ein Hund vorbei, der einen großen Fisch im Maule hatte.

[124] Wie die Katze das sah, wurde sie neidisch und forderte ihn dem Hunde ab. Der Hund forderte ihr die Rebe ab, und sie gab für den Fisch die Rebe.


6. Aus Washington (Amerika).


Es heißt, der Maulwurf hatte einstmals ausgezeichnete Augen, aber keinen Schwanz. Die anderen Tiere verspotteten ihn dieses Mangels wegen. Als er einst »einem Geschöpf (!)« begegnete, beklagte er seinen Zustand. Darauf wurde ihm der Vorschlag gemacht, seine Augen für einen Schwanz einzutauschen. Er willigte ein, und seitdem ist der Maulwurf blind, aber er hat einen kleinen Schwanz.


  • Literatur: Folklore Journal 6, 89, vgl. 5, 267.

7. Aus Frankreich.


Der Maulwurf soll nicht sehen können, seit er seine Augen für den Schwanz der Kröte, den diese früher besaß, eingetauscht hat.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 11 u. 255.

8. Aus Ceylon.


Einst hatte das Pferd Hörner, aber keine Zähne im Oberkiefer, während der Ochse keine Hörner hatte, aber beide Kiefer voll Zähne. Jedesmal wenn der Ochse das Pferd ansah, dachte er: »Was für ein glückliches Geschöpf das Pferd ist, daß es solch gute Waffe hat, um sich zu verteidigen! Mit diesen starken Hörnern braucht es niemand zu fürchten.« Aber das Pferd hielt sich nicht für so glücklich mit seinen Hörnern, denn es dachte: »Der Ochse muß sicher ein glückliches Geschöpf sein, daß er zwei Reihen Zähne hat, während ich nur eine habe.« Da sie nun eines Tages ihre beiderseitigen Meinungen entdeckten, so tauschten sie, und seitdem hat das Pferd keine Hörner, aber zwei Reihen Zähne, während der Ochse Hörner hat, aber nur im Oberkiefer Zähne.


  • Literatur: The Orientalist 3, 159. Vgl. Indian Antiquary 33, 229.

9. Aus Ungarn.


Als Gott die Welt erschuf, gab er dem Pferde zwei Hörner, aber keine Zähne. Und umgekehrt erhielt die Kuh keine Hörner, sondern nur zwei Reihen Zähne. Damit konnte sie sich gegen die anderen Tiere nicht verteidigen, das Pferd hingegen konnte stoßen und ausschlagen. Da ging die Kuh zum lieben Gott und sagte, sie könne weder stoßen noch ausschlagen; er möge doch dem Pferde die Hörner wegnehmen und ihr geben, denn gegen alle Tiere sei sie wehrlos. »Ja«, sagte Gott, »dann mußt du aber dem Pferde etwas zum Tausch geben, denn so umsonst wird es sie nicht ablassen«. Die Kuh erwiderte, sie wolle ihm die obere Reihe Zähne geben, wenn das Pferd ihr die Hörner gäbe. Gott war damit einverstanden, und so tauschten sie. Seitdem hat das Pferd Zähne und die Kuh Hörner. Das Pferd zeigt immer seine Zähne, die Kuh aber schüttelt ihre Homer, denn sie brüstet sieh damit.


  • Literatur: Magyar Nyelvör 13, 283.

10. Aus der Haute-Bretagne.


Früher hatten die Katzen Hörner, zu der Zeit, wo Ochsen und Kühe noch keine hatten. Ein Fischer kam mit seinem Ochsenwagen an einem Kreuz vorbei, um das eine Menge Katzen tanzten, sie unterbrachen den Tanz, sprangen um seinen Wagen herum und baten um Fisch. Der Fischer versprach ihnen die ganze Ladung Fische, wenn sie ihm ihre Hörner gäben. Die Katzen legten alle ihre Hörner auf den Wagen, der wurde bald ganz voll. Der Fischer steckte seinen Ochsen zwei[125] davon an und zu Hause auch seinen Kühen, die übrigen verkaufte er an seine Nachbarn. Seitdem haben nun Ochsen und Kühe Hörner, aber bei den Katzen sind sie nicht wieder gewachsen.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 72 (»assez communément en Haute-Bretagne«) = Trad. de la Haute-Bretagne 2, 43 = Revue des Trad. pop. 2, 491. 13, 405.

11. Sage der Eskimo in Baffin-Land und Hudson-Bay.


Das Walroß und das Karibu (nordam. Renntier) wurden von einer alten Frau geschaffen, die einige Teile ihrer Kleidung in diese Tiere verwandelte. Das Karibu erhielt Stoßzähne, während das Walroß ein Geweih bekam. Da es aber mit diesen die Jäger tötete, wurde getauscht, und das Walroß bekam die Stoßzähne, das Kenntier das Geweih.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 17, 3 = Boas, The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay (Bull. Am. Museum of Nat. History 15, 361).

12. Sage der Tillamook-Indianer.


Im Anfang hatte die Krähe die Stimme des Donnervogels und der Donnervogel die Stimme der Krähe. Der Donnervogel schlug ihr vor, die Stimmen zu tauschen; die Krähe willigte ein, verlangte aber vom Donnervogel die Ebbe mit dazu, da ihre Stimme so viel stärker war als die seinige. Sie brauchte die Ebbe zum Fang von Krabben und Miesmuscheln. Der Donnervogel war einverstanden und ließ die Wasser des Meeres sich eine lange Strecke zurückziehen. Da sah die Krähe alle die Ungeheuer der Tiefe, die sie erschreckten, und sie bat den Donnervogel, das Wasser nicht so weit zurückzuziehen. Darum ebbt das Meer jetzt nicht mehr so weit. Wäre die Krähe nicht so erschrocken, so würde es viel weiter ebben.


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 11, 140.

13. Sage der Bakaïrí (Zentralbrasilien).


Keri und Käme sind Zwillinge, die zu den ersten Geschöpfen gehören, welche in der Schöpfungsgeschichte der Bakairi auftreten. Sie haben anfangs noch keine menschliche Gestalt, insbesondere sind sie geschnäbelt. Beide verbrennen ihre Großmutter Mero, weil sie ihrer Mutter die Augen ausgerissen und sie getötet hat. Beim Zusehen verbrennt Käme. Keri bläst ihn lebendig und macht ihm Nase, Hände und Füße, wie die Menschen haben. Auch Keri verbrennt und wird von Käme belebt und menschlich gestaltet. Dann kamen drei Tierarten: die kleine Fischotter, die sich den Schwanz, die große, die sich Hände und Füße, und der Tukan, der sich den Schnabel von Keri und Käme nahm. Keri hatte einen größeren Schnabel gehabt als Kame.


  • Literatur: Karl von den Steinen, Die Bakairi-Sprache, S. 213 und Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens S. 374.

14a. Eine Erweiterung durch das Motiv des Wettlaufs zeigt folgende Erzählung der Pawnee-Indianer:


Vor langer Zeit begegneten sich das Reh und die Antilope in der Prärie. Damals hatten beide Afterklauen (hinterm Fuß), und beide hatten eine Galle. Es entspann sich ein Streit, wer schneller laufen könne, und sie beschlossen, daß ein Wettlauf in der Prärie entscheiden solle. Sie wetteten um ihre Gallen. Die Antilope gewann und nahm also die Galle des Rehes. Aber das Reh war so grenzenlos betrübt darüber, daß es die Antilope dauerte, und um es zu erfreuen, gab sie ihm ihre Afterklauen. Seitdem hat das Reh keine Galle und die Antilope keine Afterklauen.[126]


14b. Ein wenig anders erzählen die Schwarzfußstämme der nördlicheren Gegenden:


Nachdem die Antilope – ebenso wie in der Pawnee-Version – die Galle des Rehes durch einen Wettlauf in der Prärie gewonnen hat, sagt das Reh: »Wir müssen noch einmal im Walde laufen, um zu entscheiden, wer wirklich am schnellsten läuft.« Sie kamen überein, diesen zweiten Wettlauf vorzunehmen, und setzten ihre Afterklauen. Das Reh lief durch dichtes Gehölz und über Stock und Block am schnellsten, nahm also die Afterklauen der Antilope.


  • Literatur: George Bird Grinnel, Pawnee Hero Stories and Folk Tales, S. 204.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 123-127.
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