II. Das unzufriedene Kamel.

[265] Eine äsopische Fabel (Halm Nr. 184) erzählt, daß das Kamel den Stier um seine Hörner beneidete und selbst solche zu haben begehrte. Es ging zu Zeus und trug ihm seine Bitte vor. Dieser aber wurde unwillig über die Unzufriedenheit des Tieres und gab ihm nicht nur keine Hörner, sondern nahm ihm auch noch einen Teil seiner Ohren weg.

Diese Fabel mit der für das Leben so vielfach brauchbaren Moral hat eine weite literarische Verbreitung gehabt. Sie liegt dem talmudischen Sprichwort zugrunde: »Das Kamel ging hin und wollte Hörner haben; da schnitt man ihm auch die Ohren, die es schon hatte, noch ab« (Tractat Sanhedrin fol. 106 a; vgl. Grünbaum, Jüd.-deutsche Chrestomathie S. 242), sie ist von orientalischen Dichtern behandelt worden (vgl. Pend-Nameh ed. de Sacy S. 207); eine ähnliche Fabel hat sie nachgeahmt: im Anvár-i-Suhailí 193 geht der Esel aus, sich einen Schwanz zu suchen, und ein Landmann schneidet ihm die Ohren ab (vgl. Benfey, Pantschatantra 1, 302, wo noch auf Livre des lumières 145, Cabinet des fées 17, 363 verwiesen ist); ein arabisches Sprichwort lautet: Der Esel ging fort, um sich Hörner zu suchen, da kehrte er mit abgeschnittenen Ohren zurück (Freytag, Arabum proverbia 1, 517, Nr. 76).

Im Anschluß an Avianus, fab. 8, ist die ursprüngliche Erzählung vom Kamel bei deutschen Schriftstellern herrschend geblieben: Steinhöwel 121, Rollenhagen Rr 3 b, Burkard Waldis 1, 93.

Bei Hans Sachs, Sämtl. Fabeln u. Schwanke 4, Nr. 333 (Meistergesang vom 17. November 1546)


sieht das Kamel vier starke Ochsen grasen, und zornig über den Anblick der schönen Hörner beschwert es sich bei Jupiter, daß es wehrlos sei. Der Gott hält ihm seine Undankbarkeit vor. Es habe langes Leben, große Stärke und die Liebe der Menschen erhalten.


Vnd schnit im ab in zoren

Sein schöne lange oren,

Sprach: »Nün sey vürpas stümpfet,[265]

All dein lebenlang kümpfet,

Plaicher vnd gelber farbe,

Als der im neid verdarbe ...«


  • Literatur: Vgl. Fab. u. Schwante 1, Nr. 87. – Über die literarische Verbreitung gibt Österley zu Kirchhof, Wendunmuth 7, 57 (Bd. 4, 282) zahlreiche Nachweise (ebd. 5, 164).

Im Volksmunde scheint diese Fabel nicht vorzukommen. Wohl lag es nahe, sie in eine naturdeutende Erzählung umzuwandeln und stärkeren Nachdruck auf die Entstehung der Tiergestalt zu legen. (Vgl. Hans Sachs, auch Steinhöwel: So nim ich dir die auren dar zuo, darumb daz du öwiglichen diser strauff gedenkest.) Aber der lehrhafte Charakter blieb vorherrschend.

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 265-266.
Lizenz:
Kategorien: