IV. Die Schildkröte und der Adler.

[269] Eine Schildkröte bat einen Adler, sie fliegen zu lehren, und als dieser ihr vorstellte, es sei das ihrer Natur ganz unangemessen, bestand sie nur um so hartnäckiger auf ihrer Bitte. Er packte sie nun mit den Krallen, trug sie in die Höhe und ließ sie sodann herabfallen. Sie prallte an einem Felsen an und ward zerschmettert.[269] Die Fabel lehrt, daß gar manche, die Klügeren kein Gehör schenken, durch ihre Rechthaberei sich selbst schaden.


  • Literatur: Halm Nr. 419. Übs. von W. Binder Nr. 61.

Dieser äsopischen Fabel hat die mündliche Volksüberlieferung mehrere neue Fassungen gegeben, die zum Teil auch durch die Vorliebe für Naturdeutung beeinflußt sind.


1. Lettische Variante.


Der Fuchs bittet den Storch, ihn das Fliegen zu lehren. Der Storch hebt ihn in die Luft, und der Fuchs meint, nun werde er es können. Der Storch läßt ihn los, der Fuchs stürzt auf einen Baumstumpf und bricht den Schwanz. Seit der Zeit kam es keinem Fuchs mehr in den Sinn zu fliegen, wohl aber haben noch heutigen Tages alle Füchse gebrochene Schwänze.


  • Literatur: Lerchis-Puschkaitis 5, Nr. 75 = Živaja Starina 5, 443.

2. Aus Finnland.1


Der Fuchs bittet den Kranich, der zum Winter dageblieben ist, ihn fliegen zu lehren; so wolle er ihn den ganzen Winter durch füttern. Der Fuchs ernährt ihn und fordert am Sommeranfang den ausbedungenen Lohn. »Gut, setze dich auf meinen Rücken.« Der Kranich erhebt sich mit dem Fuchs und läßt ihn dann fallen, daß er sich das Bein bricht. Dann fragt er, wie ihm das Fliegen gefalle? »Ach, hübsch ist es sonst, nur habe ich mir dabei das Bein gebrochen.« »Nun, hast du's gebrochen, so mag es gebrochen sein!« meint der Kranich.


  • Literatur: Schreck, Finnische Märchen S. 238, Nr. 11.

3. Aus Mecklenburg.


Wenn de Schüttendreiher2 œwern See flücht, röppt he ümmer: Schreg', schreg'.3 Dat sall dorvon kamen: Eens sett't he sik an't Land daal4, dor is dor grad' de Voss. Dee secht to em, he mücht giern eens de Seepartie mit em maken, ob he em nich mitnähmen wull. Ja, dat wull he wol dohn. As se nu midden up'n See sünd, lett em de Schüttendreiher fallen. Schreg', Schreg', röppt he. Ja, secht de Voß, dat mach den Deuwel schreg' gahn, geiht ümmer grad' daal. Dor is he in'n See versapen.


  • Literatur: Wossidlo II, Nr. 311 d. Vgl. Asmus, Pomm. Bl. f. Volksk. VII, S. 15: der Storch lehrt den Fuchs fliegen (ohne Ätiologie).

Eine neue schwankhafte Pointe enthält folgende Variante:


4. Aus der Gascogne.


Ein Adler, der in den Lüften schwebte, bemerkte mit seinen scharfen Augen, daß ihm unten ein Fuchs die Zunge herausstreckte. Wie der Blitz schoß er auf ihn nieder, trug ihn bis über die Wolken empor und ließ ihn dann los. Im Fallen rief der Fuchs: Bringt Stroh her! Bringt Stroh her! (nämlich, um den Sturz zu lindern).5


  • Literatur: Bladé, Contes pop. de la Gascogne 3, 215.

An die äsopische Fabel von dem Adler und der Schildkröte erinnert auch eine am Amazonas sehr verbreitete Geschichte von einem Geier und[270] einer Schildkröte, die sich selbst herabfallen ließ, um rasch auf die Erde zu gelangen.


5. Aus Brasilien.


Der Geier macht mit der Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel gelangen könne, wo gerade ein Pest gefeiert wurde. Die Schildkröte schmuggelt sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt, mit der Behauptung, daß sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte. Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte läßt sich fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet, und ihre Schale ist geplatzt, wie man noch heute sieht.


  • Literatur: von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens S. 357 = Barbosa Rodriguez, Poranduba Amazonense. Annaes da Bibliotheca Nacional 14, 2, S. III. Rio de Janeiro 1890.

Fußnoten

1 Vgl. Aarne, Finnische Märchenvarianten, Nr. 225.


2 Fischreiher.


3 schräge.


4 nieder.


5 Vgl. Sadovnikov Nr. 53 (Nachtigall und Fuchs) und 54 (Kranich und Fuchs); beide Fassungen sind unätiologisch.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 271.
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