1. Das Märchen vom Cherruve.

[15] Es waren einmal zwei kleine Indianer1. Da sagte der erste: »Ich will zum Vulkan gehen,« und machte sich auf. »Ich gehe auf die Jagd,« sagte er.

Als er hinkam, fand er Huanakos und erlegte sie mit dem Boleador2. Gar viele Huanakos und Strausse er fand. Er hatte auch einen Hund bei sich.

So stieg er zum Vulkan empor und kam oben auf der Spitze an. An einer ganz dunklen Stelle, da gab er seinem Maultier die Sporen. So kam er gradeswegs zu dem Hause des Cherruve3. An der Tür des Hauses machte er Halt.

Da erzürnte der Diener des Cherruve über ihn und sagte zu ihm: »Wozu kommst du hierher? Gleich wird der Cherruve kommen. Mach' dich fort! Wenn der Cherruve ankommt, wird er dich töten,« sagte er zu ihm.

Da wurde der kleine Indianer böse und sagte: »Warum sollte er mich grade töten?« und blieb im Hause des Cherruve stehen.

Der Cherruve hatte einen Hund so gross wie ein Ochse; der fing an mit dem Hunde des kleinen Indianers zu streiten, aber er konnte seiner nicht Herr werden. Da rief man ihm zu: »Gleich geh hinaus!«

Es waren da aber auch zwei hübsche Mädchen, die waren wie Schafe angebunden, damit der Cherruve Fleisch zu essen habe.

Kurz vor Mittag kam der Cherruve an.

»Geh fort! Der Cherruve ist angekommen; sogleich wird er dich töten,« sagte man zu dem kleinen Indianer.[15]

»Ist denn der Cherruve so wild?« antwortete er.

»Wild, und ein Menschenfresser ist er; sobald er dich erblickt, wird er dich töten,« war die Antwort.

Da kam der Cherruve schon ganz nahe heran und schleuderte mit lautem Getöse Menschenköpfe umher. Da blitzte es; mit offenem Munde kam der Cherruve an.

Da hetzte der kleine Indianer seinen Hund: »Sei mutig, Hündchen; beiss ihn!« Und als der Cherruve ganz nahekam, da gab er seinem Maultier die Sporen und rannte den Cherruve an; so kämpften sie beide miteinander.

Da ermutigte er wieder seinen Hund. So tötete er den Cherruve. Als er tot war, befreite er die beiden hübschen Mädchen und nahm sie mit sich nach Hause. Als er sie heimbrachte, da sagten die beiden hübschen Mädchen zu ihm: »Wir wollen uns gleich mit dir verheiraten!«

»Ich will nicht! Geht zu eurem Vater und eurer Mutter!« sagte er zu ihnen. Aber sie wollten nicht.

Abermals machte sich der kleine Indianer auf und stieg zum Vulkan empor um zu jagen. Oben auf einem hohen Felsblock blieb er über Nacht. Da ging ein Cherruve ihm nach und fand ihn. Und als er ihn sah, stürzte er den Felsblock um, so dass der kleine Indianer darunter begraben wurde. So blieb er zwei Tage verloren.

Da sagte sein Bruder: »Ich will meinem Bruder nachgehen,« setzte sich auf eine Ziege wie auf ein Pferd und machte sich auf den Weg. Auf einem hohen Felsblock angekommen sagte er: »Hier will ich mich schlafen legen.«

So legte er sich hin zum schlafen.

Da kam wieder ein Cherruve; aber der Indianer sah ihn, wie er herankam, und sagte zu seinem Hündchen: »Sei mutig! wir wollen zusammenkämpfen.«

Der Cherruve kam heran und setzte sich oben auf einen Felsblock. Da erbebte der Felsen. Der Indianer aber zog sein Schwert heraus und erhob es gegen den Cherruve und verwundete ihn und warf ihn auf die Erde nieder, und sie bissen auf einander ein. So nahm er den Cherruve gefangen und fragte ihn aus: »Wo hast du meinen Bruder gelassen? sagte er; sogleich wirst du mir meinen Bruder zeigen.«[16]

»Du must hier die Steine auf der Erde umwälzen,« antwortete der Cherruve.

»Nein, das werde ich nicht. Wie käme ich dazu die Steine umzuwälzen. Du wirst das tun, und wenn du sie nicht umwälzt, so werde ich dich töten,« sagte der Indianer zum Cherruve.

Da wälzte er alle Steine um und unter einem grossen Steine, sprang schnell der kleine Indianer hervor. Ein bischen weiter hin kam auch das Maultier wieder heraus, und als er noch einen Stein umwälzte, sprang auch das Hündchen wieder hervor.

Da erzählten sich die beiden Brüder: »Wie kam denn das, dass er dich tot machte?« sagte der eine.

»Er hat mich hinterlistig angegriffen und so hat er mich getötet,« antwortete der kleine Indianer.

Dann sagte er zu dem Cherruve: »Mach, dass du fort kommst!«

Darauf gingen die beiden nach Hause; dort blieben sie und der kleine Indianer betrank sich. Da sagte er: »Ich bin ein tapferer Kerl; ich habe den Cherruve tot geschlagen.«

Aber man glaubte es ihm nicht.

Da sagte ein Reicher zu ihm: »Nun, wenn du denn so ein tapferer Kerl bist, so nimm mir meinen Teller weg, während ich noch esse. Wir wollen wetten, dass du es nicht kannst.«

»Gut,« sagte der kleine Indianer; »ich setze mich selbst als Einsatz, wie hoch schätzt du mich? Wenn du gewinnst, kannst du mit mir machen, was du willst, du magst mich töten; oder willst du mich als Diener, so nimm mich als Diener,« antwortete der kleine Indianer.

»Wie hoch schätzt du dich?« fragte der Reiche.

»Bestimme du's nur selbst,« antwortete der andere.

»Auftausend Thaler schätze ich dich,« sagte der Reiche.

»Gut,« antwortete der kleine Indianer.

Da wurden auf den Abend alle Reichen zum Austrag der Wette versammelt.

»Also, ich werde dir, während du noch isst, die Speise vor dem Munde wegnehmen,« sagte der kleine Indianer.

»Abgemacht!« antwortete der Reiche.

Da ging der kleine Indianer den ganzen Tag über hinaus[17] und suchte Schlangen. Gegen Abend kam er zurück, und während der Reiche noch am Essen war, liess er mit einem Mal alle seine Schlangen los.

Als der Reiche die Schlangen sah, rief er: »Da sind ja Schlangen!« und sprang auf um die Schlangen tot zu schlagen. Aber in dem Augenblick kam der kleine Indianer herein und nahm ihm seinen ganzen Teller weg und ging davon. Am nächsten Morgen sagte er zu dem Reichen: »Ich habe gewonnen;« da bekam er seine tausend Thaler.

»Wir wollen noch einmal wetten, sagte der Reiche; du sollst mir mein Bett wegnehmen.« »Gut,« sagte der kleine Indianer.

So wetteten sie noch einmal, und zwar um zweitausend Thaler.

»Heute Nacht, wenn du schläfst, werde ich dir dein Bett wegnehmen,« sagte der kleine Indianer zu dem Reichen. Dann zog er wieder den ganzen Tag über aus und suchte Stinktiere. Während der Reiche schlief, liess er im Anbau hinter dem Hause alle seine Stinktiere los4. Da fingen die Stinktiere so furchtbar an zu furzen, dass der Reiche schnell aufsprang und hinauslief, ganz voll von dem Gestank der Tiere. Wie er aber so schnell hinauslief, da kam der kleine Indianer herein und schleppte das ganze Bett des Reichen davon.

Am nächsten Morgen sagte er zu dem Reichen: »Ich habe gewonnen.« Da bekam er seine zweitausend Thaler.

»Wir wollen noch einmal wetten; du sollst mir mein gesatteltes Pferd wegnehmen. Ich werde mir als Wächter einen Burschen dazu stellen. Wir wollen um viertausend Thaler wetten,« sagte der Reiche zu dem kleinen Indianer.

»Mir ist's recht,« sagte dieser. Da hatte der andere viele Unterstützung.

»Gegen Abend werde ich es dir wegholen,« sagte der kleine Indianer und ging den ganzen Tag hinaus und machte ein Pferd von Holz. Gegen Abend kam er wieder zurück und stellte sich hinter dem Hause auf und sein Holzpferd, schnauzte sich. Unterdes war der Reiche am Essen. »Komm und iss auch ein bischen,« sagte er zu dem Pferdewächter. Aber da kam der kleine Indianer und nahm das gesattelte Pferd weg und stellte an seiner Stelle das Holzpferd hin. Ganz so wie[18] das andere Pferd gestanden hatte, stellte er sein Holzpferd hin. Dann galoppierte er davon.

»Trabt da nicht jemand?« sagte der Reiche.

Da ging der Pferdeknecht hinaus und sagte: »Dort reitet er hin, ich werde ihm nachreiten«5.

»Ja, ja, mach' dich sofort auf!« sagte der Reiche.

Aber als er aufsteigen wollte, fiel das Pferd um. »Das ist ja wahrhaftig Holz!« sagte der Pferdeknecht.

Der kleine Indianer brachte das Pferd nach seiner Wohnung. Am nächsten Morgen aber kam er zurück und brachte das Pferd wieder mit. »Ich habe gewonnen,« sagte er zu dem Reichen, und bekam seinen Gewinn ausgezahlt.

(Da sagte der Reiche zu ihm6: »Wir wollen noch einmal wetten; achttausend Thaler setze ich gegen dich ein.« »Gut,« sagte der andere.

»Du sollst mir ein Pferd zähmen.« »Gut,« antwortete der kleine Indianer.

Am Abend wurde das Pferd angebunden.

»Morgen, gleich nach Mittagszeit wird das Tier also Schritt gehen,« sagte der Reiche zu dem kleinen Indianer. »Gut,« antwortete dieser. Da stieg der kleine Indianer am Morgen früh auf das Pferd und es war noch kaum Mittag, da ging das Pferd im Schritt.)

So verlor der Reiche abermals und war nun ganz arm; der kleine Indianer aber war ein reicher Mann geworden.

Da sagte der ehemalige Reiche: »Ich werde ihn sofort töten.«

Der kleine Indianer hatte ein hübsches Haus; das beschmierte der andere ganz mit Fett und steckte es an allen Enden zugleich an. So kam der kleine Indianer um's Leben.

Quelle:
Lenz, Rudolf: Aurakanische Märchen und Erzählungen. Valparaiso: Universo de Guillermo Helfmann, 1896, S. 15-19.
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