22. Das väterliche Erbe

[105] In einem Dorf, das fünfundzwanzigtausend Seelen zählte, lebte einst ein Mann, Namens Tschnara aus dem Geschlecht der Nelbi; der war so arm, daß er fast Hungers starb. Eines Tages sagte er zu seiner Mutter: »Ich habe weder ein Pferd, um darauf zu reiten, noch ein ordentliches Gewand, um es anzuziehen, noch Waffen anzulegen. Der mich in die Welt gesetzt hat, muß schon sehr arm gewesen sein und ich komme aus meinem Elend doch nie heraus.« »Nein,« antwortete seine Mutter, »dein Vater war nicht arm. Ein Pferd hat er hinterlassen, das steht jetzt seit fünfzehn Jahren im dunklen Stall und nährt sich bloß von Kieseln und Eisen; es ist furchtbar böse und wenn du Mut genug hast, ihm einen Sattel aufzulegen, so gehört es dir. Ein Panzer ist auch noch da; der ist so schwer, daß ihn nur fünfzehn Jungfrauen von der Stelle bringen; er gehört dir, wenn du ihn tragen kannst. Und ein Säbel ist noch da; nimm ihn dir, wenn du ihn handhaben kannst.«

Tschnara holte sich seines Vaters Pferd aus dem Stall und sattelte es; mit Leichtigkeit zog er den Panzer an, gürtete sich den Säbel um, bestieg sein Pferd, setzte damit über drei Zäune und ritt ins Blaue hinein. Lange, lange war er auf dem Weg, bis ihm jemand begegnete. Und das waren die sieben Nartenbrüder, die Erchustojer, die da am Wege in festen Schlaf versunken lagen. Als Tschnara an ihnen vorbeiritt, sagten ihre Pferde zu dem seinigen: »Wohin des Wegs in solchem Ungestüm, daß du die Erde aufreißest wie mit einem Pflug und aufwirfst, wie ein Maulwurf? Wenn wir uns nicht scheuten, unsere Herren zu wecken, wäre der heutige Tag sicher dein letzter.« »Und ich, wenn ich nicht einen so weiten Weg vor mir hätte, ich würde euch wegwischen von der Oberfläche der Erde, wie den Tau vom Gras«, antwortete Tschnaras Pferd und stürmte weiter.[106]

Lange ritt Tschnara, kurze Zeit ritt er, wer weiß es? Schließlich kam er in eine große Stadt. Er ließ seinem Pferde die Zügel nach, damit es selbst in das Haus einkehre, in dem es ihnen beiden wohl sein würde. Am anderen Ende der Stadt stand ein einzelnes Haus, in dem eine Witwe wohnte. In den Hof dieses Hauses lenkte das Pferd seine Schritte. Die Witwe nahm den Unbekannten mit Freuden auf. Tschnara, der sehr müde war, legte sich schlafen. Mitten in der Nacht sah er es blitzen, obwohl der Himmel ganz heiter war. Davon erzählte er am folgenden Morgen der Witwe und diese erklärte ihm, es blitze jedesmal, wenn die Königstochter sich im Schlafe umdrehe. Als er von der Witwe nun noch erfuhr, daß die Königstochter sehr schön sei, schickte er sie zum König, mit dem Auftrag, für ihn um die Hand der Prinzessin anzuhalten. Die Witwe richtete ihren Auftrag aus und erhielt vom Könige die Antwort, er habe kein Recht über seine Tochter zu verfügen, denn er wisse, es sei ein Königssohn mit hundertundzwanzig Reitern auf dem Weg, um sich die Prinzessin mit Gewalt anzueignen. Als Tschnara das hörte, setzte er sich sofort aufs Pferd und ritt dem Königssohn entgegen. Kaum sah dieser Tschnara vor sich, als er sein Gefolge in verächtlichem Tone fragte: »Was kommt uns denn da entgegen?« »Du siehst vor dir Tschnara aus dem Geschlechte der Nelbi, dem selbst ein vorüberfliegender Vogel eine Feder zuwirft als Gabe und ein vierfüßiges Tier einen Huf. Wer ich aber weiter bin, sollt ihr gleich sehen.« Sprach's, gab seinem Pferd einen Hieb mit der Peitsche und griff die Schar des Königs an. Sein Pferd zertrat die, welche ihm unter die Hufe gerieten und über wem Tschnaras Säbel blitzte, der verlor sein Leben.

Alle hieb er nieder, kehrte dann in die Stadt zurück und schickte die Witwe von neuem zum König und ließ ihn wissen, mit ihm werde dasselbe geschehen wie mit jenem Prinzen, wenn er ihm seine Tochter nicht gebe. Der[107] König aber gab eiligst seine Einwilligung und Tschnara setzte seine schöne Braut in einen Wagen und fuhr nach Hause. Unterwegs traf er wieder die Erchustojer Narten. Sie betrogen ihn, indem sie ihm versicherten, sie seien seine besten Freunde; so kam es, daß Tschnara ohne Waffen zu ihnen ging. Das benützten die sieben; sie stiegen in seinen Wagen und entführten ihm seine Braut. Aber Tschnaras Pferd kam zufällig vom Wagen22, in den es eingespannt war, los; Tschnara rief es zu sich und jagte den Narten nach. Als er sie eingeholt hatte, wußte er doch nicht recht, was er tun solle, denn er hatte ja keine Waffen. Aber seine Braut kam ihm zu Hilfe: im günstigen Augenblicke warf sie ihm seinen Säbel zu. Kaum hatte er ihn, da flogen auch schon die Köpfe der Narten von ihren Schultern herunter.

Ohne weitere Abenteuer kam Tschnara nach Hause. Dort heiratete er, aber in der Brautnacht wurde ihm seine Frau gestohlen. Niemand wußte von wem. Fenster und Türe des Brautgemachs waren geschlossen. In bittere Tränen brach Tschnara da aus und als er keine Tränen mehr hatte, weinte er Blut. Aber das Weinen nützte ja nichts. Er machte sich also auf die Suche. Weit, weit weg wanderte er und traf eines Tages abseits vom Wege einen Hirten. Der vertrieb sich die Zeit damit, daß er auf einen Hügel hinauf- und dann wieder herunterlief. Aufwärts lachte er, abwärts weinte er. Das sonderbare Benehmen des Hirten fiel Tschnara auf, er ritt an ihn heran und frug ihn, was er da treibe. »Ich weine, wenn ich vom Hügel herabsteige, weil mir Tschnara aus dem Geschlechte der Nelbi leid tut, und ich lache beim Aufstieg, weil ich zu Hause Fleisch und Brot bekomme«, antwortete der Hirt. »Weißt du etwa, wer Tschnaras Frau geraubt hat? Und wo der Räuber wohnt?« frug Tschnara wieder. »Ja, das weiß[108] ich, es ist ein Nogaier23 aus dem Dorf in der Nähe.« Tschnara gestand ihm nun, wer er sei und bat ihn um Rat, wie er seine Frau aus den Krallen des Nogaiers befreien könne. »Das will ich dir sagen,« sagte der Hirt, »das mußt du so anstellen: Heute Nacht will der Nogaier zum erstenmal mit deiner Frau schlafen; ziehe mein Gewand an und verstecke deinen Säbel darunter, dann gehst du heute Abend mit den Kälbern in jenes Dorf; die Tiere werden dich in den Hof des Nogaiers führen; dort wird man dir Brot und Fleisch geben und dann mußt du ihn bitten, er möge dich mit diesen Geschenken (dem Brot und dem Fleisch) zu seiner Braut lassen, du wolltest sie beglückwünschen. Das wird er dir erlauben. Alles übrige ist deine Sache.«

Tschnara führte alles genau so aus, wie der Hirte ihm geraten hatte. Er konnte in der Tat im Zimmer seiner Frau die Ankunft des Nogaiers abwarten. Als es Nacht wurde, ließ der auch nicht lange auf sich warten; er trat ein und das erste, was er tat, war, vor seiner Braut die Geschicklichkeit zu rühmen, mit der er sich aufs Stehlen verstehe. »Ich stehle Kinder aus den Armen ihrer Mütter, ohne daß sie es merken, ich stehle junge Frauen aus dem Bett von der Seite ihre? Mannes weg.« »Das glaub' ich dir schon,« versetzte Tschnaras Frau, »aber den Säbel fuhrt niemand so geschickt als der, dem du mich gestohlen hast.« Der Nogaier war wütend ob dieser Entgegnung, schimpfte sie »Hündin«, schlug sie mit der Peitsche und nannte Tschnara einen Feigling. In diesem Augenblick sprang Tschnara hervor und hieb dem Nogaier mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Dann nahm er alles Hab und Gut des Toten, gab einen Teil davon dem Hirten ab und kehrte mit seiner Frau nach Hause zurück.

22

Die ganze Episode mit dem Wagen ist spätere Zutat. Die Kaukasier kennen keine »Wagen« und haben in ihre »Arben« nie Pferde eingespannt.

23

Nogaier, ein tatarisches Volk, das in der Nachbarschaft der Tschetschenen und der Tscherkessen wohnt.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 105-109.
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