24. Die Stieftochter

[113] Es war einmal ein alter Mann, der nahm sich nach dem Tode seiner Frau eine andere. Die gebar ihm eine Tochter, und eine hatte er von seiner ersten Frau. Nun haßte aber die Frau ihre Stieftochter aus ganzem Herzen und sie brachte es fertig, daß ihr Mann seine Tochter in einem leeren Hause im Walde aussetzte, damit sie von den wilden Tieren gefressen werde.

Da saß nun das Mädchen ganz allein. Als es Abend geworden war, tat sie ein wenig Grütze in ein Kesselchen, das sie mitgebracht hatte, um sich einen Brei zu kochen. Da kam ein Mäuschen aus einem Loch und bat sie um ein bißchen von der Grütze. Das Mädchen gab ihr etwas und die Maus aß es auf. Als sie satt war, sagte sie zu dem Mädchen: »Heute nacht kommt ein Bär, der wird dir ein Glöckchen geben und zu dir sagen: ›Nimm das Glöckchen und lauf dreimal um das Haus; wenn ich dich nicht fangen kann, bekommst du von mir einen silbernen Wagen mit drei Pferden, fang' ich dich aber, dann freß' ich dich auf.‹ Du mußt einwilligen und das Glöckchen annehmen. Dann komm' ich und du gibst es mir; ich laufe dann dreimal um das Haus, du aber kletterst auf das Dach und wartest ruhig, was weiter kommen wird.«

Wirklich, um Mitternacht kam der Bär mit dem Glöckchen. »He, Mädchen,« sagte er, »nimm das Glöckchen,[113] läute es und lauf damit dreimal um das Haus; wenn ich dich nicht erwische, bekommst du von mir einen silbernen Wagen mit drei Pferden; wenn ich dich aber einhole, fresse ich dich.« »Gut«, sagte das Mädchen, nahm das Glöckchen, lief hinaus, gab es der Maus, die damit dreimal ums Haus lief, es dann dem Mädchen wieder zurückgab und in ihr Loch schlüpfte. »Du hast gewonnen«, sagte der Bär und brachte ihr das Versprochene.

Nach einiger Zeit sagte die Stiefmutter des Mädchens zu ihrem Manne: »Hol' jetzt die Knochen deiner Tochter.« Der Alte ging fort in den Wald. Plötzlich aber fing der alte Hofhund an zu sprechen: »Unser Alter kommt zurück mit seiner Tochter. In einem silbernen Wagen sitzen sie und ein Dreigespann zieht diesen. Ich höre das Gebimmel der Glocken.« Erbost fuhr ihn die Alte an: »Was Glocken? Das sind ja doch bloß die Knochen seiner Tochter. Räudig sollst du werden!« Und schlug den Hund und jagte ihn hinaus. Aber nach einigen Augenblicken kam er schon wieder und meldete, der Alte sei jetzt da, und er sitze mit seiner Tochter wirklich in einem silbernen Wagen. Aus Wut und Ärger stach sich da die Stiefmutter ein Auge aus. Bald aber befahl sie ihrem Manne, auch ihre Tochter in den Wald zu führen, damit sie auch einen silbernen Wagen bekäme. Der Alte führte also seine Stieftochter hinaus in den Wald und ließ sie in dem Hause allein. Wieder kam die Maus und bat um ein weniges zu essen. Aber das Mädchen war hartherzig, schlug die Maus auf den Kopf und verjagte sie. Um Mitternacht kam der Bär mit dem Glöckchen, aber da diesmal keine Maus da war, konnte das Mädchen auch nicht einen einzigen Schritt tun und schon hatte sie der Bär und fraß sie auf.

Am folgenden Morgen jagte die böse Frau ihren Mann wieder in den Wald: »Geh, hol' meine Tochter und den silbernen Wagen.« Der Alte suchte und suchte, fand aber bloß die Knochen seiner Tochter, tat sie in einen Sack und machte sich auf den Heimweg. Schon von weitem[114] hörte ihn der Hund kommen, lief zu der Frau und meldete ihr: »Die Knochen deiner Tochter kommen!« »Was Knochen!« brüllte die Frau. »Der silberne Wagen ist's!« Sprach's und hieb dem Hunde eins über und jagte ihn aus dem Hause. Aber es war doch so, wie der Hund gesagt hatte. Der Alte trat ein und hatte weiter nichts mitgebracht als einen Sack voll Knochen. Die Frau wurde so wütend, daß sie sich auch das andere Auge ausstach. Und von der Zeit an war ihr das Leben nur eine Qual; der Alte aber lebte mit seiner Tochter glücklich und zufrieden.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 113-115.
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