8. Der Sprosser und die Nachtigall.

[35] Es war und es war nicht – es gibt niemand Besseren als Gott –, es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Als er alt wurde, versammelte er diese, denn er wollte wissen, welchem er sein Reich übergeben sollte. Zuerst wandte er sich an den ältesten und frug ihn: »Mein Sohn, kannst du mir eine Kirche bauen, an der niemand einen Fehler finden könnte?« Der Sohn überlegte sich die Sache und sagte: »Nein, Vater, das kann ich nicht.« Nun kam der mittlere Sohn an die Reihe, dem er dieselbe Frage stellte und von dem er dieselbe Antwort bekam. Auch diesen entließ er, holte sich den jüngsten und frug ihn dasselbe wie die beiden andern: »Mein Sohn, kannst du mir eine solche Kirche bauen, daß niemand in Volk und Heer einen Fehler daran finden könnte?« Der Jüngste dachte ein wenig nach und sagte: »Ja, das kann ich.«

Er rief die Meister zusammen im Königreich, von denen er glaubte, daß sie was zustande brächten, und der Bau begann. Als er fertig war, versammelte der König sein Heer und sein Volk und befahl ihnen, die Kirche zu prüfen und ihm es zu melden, wenn sie Fehler fänden. Aber niemand fand etwas zu tadeln. Nun sollte der König die Kirche selbst betreten und Gottesdienst abhalten, als ein alter Mann vorbeiging, sich die Kirche ansah und sagte: »Ach, was sie da für eine schöne Kirche gebaut haben! Nur schad, daß die Grundmauer ein bißchen krumm ist.« Das hörte der König, hielt den Alten an und befahl ihm, zu wiederholen, was er eben gesagt hatte. »Nichts Besonderes[35] hab' ich gesagt,« antwortete der Alte, »bloß, daß das eine schöne Kirche wäre, wenn die Grundmauer nicht ein bißchen krumm wäre.« Als der Königssohn das hörte, ließ er Arbeiter kommen und die Kirche niederreißen. Dann aber baute er eine noch schönere, rief seinen Vater wieder, und der kam mit Volk und Heer und prüfte den Bau. Wieder fand niemand einen Fehler daran, und eben wollte der König eintreten, als wieder ein alter Mann vorbeiging und sagte: »Schön ist die Kirche, aber die Kuppel ist krumm.«

Das hörte der König, stellte den Alten und sagte zu ihm: »Laß mich hören, was du eben gesagt hast.« Der Alte wiederholte ihm, was er geäußert hatte, und ging seines Weges. Wieder holte sich der Königssohn Arbeiter und baute eine neue, schöne Kirche. Als sie fertig war, versammelte der König Heer und Volk und befahl ihnen, die Kirche zu untersuchen, aber niemand fand einen Fehler. Der König wollte eben den Fuß in die Kirche setzen, als derselbe Alte vorbeiging und sagte: »Schön ist die Kirche, aber Sprosser und Nachtigall fehlen ihr.« Der König hörte das, stellte den Alten und frug: »Was hast du gesagt, Alter, wiederhol's!« Der Alte sagte dem König, was er zu sagen hatte, und ging seines Wegs. Der König aber kehrte um und betrat die Kirche nicht. Der Königssohn war sehr betrübt und nahm sich vor, das Land zu verlassen. Sein Vater schenkte ihm ein dreibeiniges Pferd und ließ ihn ziehen. Der Sohn tat seine Rüstung an, stieg auf und machte sich auf den Weg. Aber langsam ging's; das Pferd kroch nur so dahin, es hatte ja auch nur drei Beine. Das Weinen kam dem Königssohn an. Schließlich erreichte er eine Wiese, wo er einen Greis erblickte, der den Mais begießen sollte und der sich bückte, bis er den Fuß sich auf den Bart stellen konnte, sich mühte und mühte, aber ohne daß das Wasser gekommen wäre. Als der Alte den weinenden Reiter bemerkte, sagte er: »Warum weinst du, mein Sohn? Was ist dir passiert?« Der Königssohn erzählte ihm alles,[36] was vorgefallen war und was er jetzt zu tun gedenke. »Du,« sagte der Alte, »sei nicht traurig; glaub' nicht, daß dein dreibeiniger Gaul so einfältig ist, sag' ihm nur, daß du ihn notwendig brauchst, und er wird schon wissen, was er zu tun hat. Er wird dich von hier forttragen bis jenseits des Meeres. Dort wird er dich zu einem Mädchen bringen, das hat einen Sprosser und eine Nachtigall. Wenn du das Mädchen nicht entführst, kannst du auch die Vögel nicht entführen. Aber laß nur das Pferd machen. Gib acht und versteck' dich gut, daß dich das Mädchen nicht sieht, sonst verwandelt sie dich in Wind und Staub. Aber wenn sie sich schlafen legt, bindet sie ihr goldenes Haar los, und es hängt vom Dache bis auf die Erde herunter. Dann geh hin, winde ihr Haar dir um die Hand, und so sehr sie auch schreien mag: ›Ich brenne‹, laß nicht los, sondern greif nur noch fester zu. Sie wird dich bei tausenderlei Dingen beschwören, beim Himmel, der Erde, der ganzen Welt, glaub' ihr nicht; erst wenn sie dir bei Sprosser und Nachtigall schwört, daß sie dir als Gattin folgen wolle, laß sie los. Du mußt sehr vorsichtig sein, der kahlköpfige Lautenspieler sitzt seit vier Jahren auf einer Wolke und bewacht sie; er möchte sie gern entführen, aber es gelingt ihm nicht. Also, wenn sie bei Sprosser und Nachtigall schwört, dann laß los und steig hinauf zu ihr.«

Der Königssohn verabschiedete sich von dem Alten und sagte zu seinem Pferd: »So, jetzt brauch' ich dich!« Es flog auf wie der Wind, flog übers Meer und aufs trockene Land. Von da kam er bald in die Nähe des Mädchens mit dem Goldhaar, belauerte sie, und als sie ihr Haar losband, stahl er sich heran und wand es sich um die Hand. »Ich brenne!« rief sie, aber er faßte sie nur um so fester beim Haar. »Was willst du von mir?« frug sie. »Heiraten will ich dich!« »Gut, ich bin einverstanden.« »Nein, das genügt mir nicht,« antwortete der Königssohn, »du mußt schwören.« Sie schwor. »Nein,« sagte er wieder, »bei Sprosser und Nachtigall sollst du schwören.« Aber das[37] wollte sie nicht. Noch fester und enger wand er sich ihr Haar ums Gelenk. »Ich brenne!« rief das Mädchen wieder. Noch fester packte er zu. Bei der ganzen Welt, bei Himmel und Sonne schwor sie, ihn zu heiraten, aber er hörte sie nicht an und zog immer fester an ihren Haaren. Schließlich schwor sie bei Sprosser und Nachtigall. Da ließ er ihr Haar los und stieg zu ihr hinauf. »Ich habe dir geschworen, dich zu heiraten,« sagte das Mädchen, »aber ich heirate dich nicht, bis ich nicht eine gewisse Sache herausgebracht habe. Ich habe ein dreibeiniges Pferd, das will ich mit dem deinen zusammenbringen; wenn die beiden raufen, werde ich deine Frau nicht. Wenn sie aber nicht raufen, bin ich die Deine.« Der Königssohn willigte ein, und sie ließen die beiden Pferde aufeinander los. Die Tiere wieherten, liefen einander an, blieben stehen und rieben ihre Hälse eines am andern. Denn sie waren Mutter und Sohn, und wie sollten sie da raufen?

Der Königssohn aber machte sich mit dem Mädchen auf den Weg. Sprosser und Nachtigall nahmen sie mit. Unterwegs aber erblickte sie der bartlose Lautenschläger, kam herbei, nahm das Mädchen weg, verschwand mit ihr in die Erde und flog dann wieder gen Himmel. Sehr betrübt wurde da der Königssohn. »Geht«, sagte er zu seinen Dienern, »und holt mir recht lange Stricke!« Die Diener führten den Befehl aus. Der Königssohn ließ sich anbinden und befahl ihnen, ihn da hinunterzulassen, wo das Mädchen verschwunden war. Das taten sie; er band sich los und ging und ging, bis er zu einer Wiese kam. Auf dieser Wiese weideten drei dreibeinige Pferde: ein schwarzes, ein rotes und ein weißes. Die weideten und fingen dann zu spielen an. Mit den Pferden aber verhielt es sich so: wenn sich jemand auf das schwarze setzte, schüttelte es sich und schlug solang an die Felsen, bis der Reiter tot war. Es war der Bote des Todes. Wenn sich einer auf das rote setzte, so ging es immer abwärts, wer aber aufs weiße stieg, den trug es himmelwärts, in jene Welt; es war der[38] Bote des Lichtes. Der Königssohn versuchte das schwarze Pferd zu fangen, aber es gelang ihm nicht. Noch das weiße. Schließlich aber kriegte er das rote zu fassen, saß auf und ritt abwärts damit. Lange ritt er und kam hinunter in ein Reich. Lange ritt er, wenig ritt er, er kam schließlich in eine Stadt. Sehr viel Durst litt er unterwegs. In der Stadt ritt er zu einer alten Frau und bat sie um Wasser. Die sagte: »Junge, ich würde dir schon Wasser geben, aber wir haben keines. Am Wasser sitzt ein Drache, der frißt jeden Tag ein Mädchen und gibt uns dann Wasser tropfenweise. Heut ist die Reihe an der Tochter des Königs.« »Mutter,« sagte der Königssohn, »gib mir Eimer, ich hole dir Wasser.« »Nein, Junge, nein, der Drache verschlingt dich.« Aber der Junge hörte nicht auf sie; er riß einen Wasserkrug aus der Erde7 und ging weg. Auf seinem Weg traf er ein Mädchen; das stand da, ganz in Schwarz gekleidet, hatte die Hände auf der Brust gekreuzt und weinte bitterlich. »Schwester,« sagte der Königssohn, »weine nicht, du brauchst dich vom Drachen nicht fressen zu lassen.« »Geh doch,« bat das Mädchen, »geh, sonst kommt der Drache und verschlingt dich und mich.« »Nein, ich geh' nicht; ich will jetzt nur ein bißchen schlafen, weil ich müde bin, und wenn der Drache kommt, wecke mich auf.« Er legte sich nieder, schlief ein, und plötzlich kam ein Drache dahergeflogen. Das Mädchen sprang auf und wollte den Jungen wecken, aber der schlief so fest und wollte nicht aufwachen. Da fielen drei Tränen aus den Augen des Mädchens auf seine Wangen; die brannten ihn so, daß er sofort erwachte. Er sprang auf, spannte seinen Bogen und schoß dem Drachen im Fluge einen Pfeil in den Leib. Dann zerhieb er ihn mit dem Schwerte. Die eine Seite des toten Drachen war geschwollen wie ein Berg, und aus der andern floß das Blut in Strömen. Schnell verbreitete sich die Nachricht in der Stadt: der Drache ist tot, der Drache ist tot![39] Mensch und Vieh drängte sich zum Wasser; immer neue kamen. Die halbverdursteten Leute tranken so viel, daß einige gleich am Brunnen starben, einige auf dem Rückwege und einige zu Hause. Auch die Königstochter ging nach Hause. Und wie sich ihr Vater freute! Und dann wollte er erfahren, wer seine Tochter vom Tode errettet hatte. Diese ging und suchte unter den Leuten ihren Retter, suchte und suchte, aber finden tat sie ihn nicht. »Vater,« sagte sie, »er ist nicht hier.« Der König schickte Leute aus, die ihn endlich fanden und zum König führten. Der Junge aber hatte auf dem Wege einen Hasen gefangen und sich in den Brustbausch gesteckt. Als er nun mitten unter den Leuten stand, die ihn hergeführt hatten, wollte die Königstochter sich zu ihm setzen, er aber zeigte dem Mädchen die Hasenohren, und sie erschrak. Ihr Vater frug sie, ob sie ihren Retter noch nicht gefunden habe. »Doch,« antwortete sie, »aber er hat etwas im Brustbausch, das macht mir Furcht.« »Geh nur,« sagte der König, »mache die Augen zu und setze dich hin zu ihm.« Das tat sie auch und setzte sich ihm auf den Schoß. Der König ließ ihn mit großer Ehre in den Palast führen, aber der Junge heiratete sie nicht. Der König frug ihn, was er denn eigentlich wolle. »Weiter nichts als nach Hause; seht zu, daß Ihr mich irgendwie in meine Heimat schickt!« antwortete er. »Das kann ich nicht,« sagte der König, »aber was von mir abhängt, will ich tun. Ich weiß einen Ort, dort hat ein Geier sein Nest. Dem läßt ein Adler keine Ruh'; er frißt ihm die Jungen weg.« Der Königssohn nahm Pfeil und Bogen und begab sich zum Neste des Geiers. Plötzlich kam der Adler angeflogen und wollte die Geier jungen fressen; der Königssohn aber schoß ihm einen Pfeil mitten ins Herz. Die Geier jungen nahmen ihn ins Nest und liebkosten ihn, und mitten unter ihnen schlief er ein. Als die Geiermutter nach Hause kam, sah sie einen Menschen im Neste liegen und breitete schon ihre Fänge aus, um ihn zu töten, weil sie glaubte, daß dieser Mensch ihr immer ihre Jungen raube,[40] aber als sie hörte, was vorgefallen war, ließ sie sich über dem Schlafenden nieder und beschattete ihn band mit dem einen, bald mit dem andern Flügel. Und wie der Königssohn nun erwachte, frug sie ihn, wie sie ihm dafür danken könne, daß er ihre Jungen errettet habe. »Führ' mich in meine Heimat,« antwortete dieser, »weiter will ich nichts von dir.« »Gut, nimm vom König vier Büffel, setz' dich auf mich, und ich bringe dich nach Hause.« Das tat der Königssohn; er holte sich die vier Büffel, zerschnitt sie in Stücke, lud sie dem Geier auf, setzte sich selbst darauf, und weg flog der Geier. Und sooft dieser sich umsah, gab er ihm ein Stück Fleisch. Aber beim letzten Male war kein' Fleisch mehr da; wenn der Geier nun nichts mehr zu fressen bekam, mußten sie beide hinunterfallen. Da schnitt sich der Königssohn ein Stück Fleisch aus dem Leibe und gab es dem Geier. Als sie nun auf der Erde ankamen, fing der Königssohn zu hinken an. »Was hast du mir denn zuletzt zu essen gegeben?« frug der Geier. »Ein Stück Fleisch von meinem Körper,« antwortete er, »sieh, hier hab' ich es herausgeschnitten.« Der Geier zog sich eine Feder aus, bestrich die Wunde damit, und sie wurde heil. Der Königssohn aber machte sich auf die Suche nach Mädchen, Sprosser und Nachtigall. Ob er lang marschierte oder wenig? Er kam zu dem Orte, wo der Bartlose das Mädchen hingebracht hatte. »Wo ist der Bartlose?« frug er dieses. »Seit drei Jahren schläft er«, antwortete sie weinend. »Als er mich von dir weggeführt hatte, schlief er ein Jetzt hat er noch drei Tage zu schlafen.« »Aber wie kann man ihn töten?« »Hinter neun Schlössern ist ein Käfig,« antwortete sie, »darin sind drei Vögel. Diese Vögel sind seine Seele, sein Geist und seine Kraft. Wer ihn töten will, muß diese drei umbringen.« Der Königssohn öffnete die Schlösser, kam dahin, wo die Vögel waren, riß ihnen geschwind die Köpfe ab und warf sie weg. Und im selben Augenblick starb auch der Bartlose. Dann nahm er das Mädchen, den Sprosser und die Nachtigall und machte[41] sich auf den Weg zu seinem Vaterhaus. Der Vater freute sich ungemein, segnete seinen Sohn, setzte ihm die Krone auf, gab ihm das Mädchen zur Frau und hielt ein großes Hochzeitsfest ab. Alle freuten sich, und wir freuen uns mit ihnen. Und jetzt ist das Leben deines Feindes auch zu Ende.


Leid dort, Freude hier,

Kleie dort, Mehl hier.

7

Große in den Erdboden versenkte Topfe dienen zur Aufbewahrung von Wein und Wasser.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 35-42.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon