38. Der Hase und der Löwe

[160] Im Lande Hindustan gab es einen Ort, wo viel Gras wuchs, und Quellen sprudelten. Ein Wald war auch dort, von dem die Menschen nichts wußten. In diesem Walde lebten die wilden Tiere. Ihr König aber war der Löwe. So oft er wollte, ging er auf die Jagd, aber jedesmal erschraken dabei alle Tiere furchtbar und hatten keine Ruhe. Da versammelten sie sich nun eines Tages und hielten Rat miteinander. Und eines sagte zum andern: »Brüder, dieser Löwe ist nun einmal unser König und er frißt den von uns, der ihm gerade paßt. Es wäre wohl besser, wenn wir durchs Los bestimmen würden, wer zum König geschickt werden soll, dann sind wenigstens die andern frei von Furcht und Sorge.« Dieser Rat gefiel allen; man schrieb also eine Bittschrift an den Löwen und bat um seine gnädige Entscheidung. Dem Löwen gefiel die Sache; er ließ die Tiere wissen, er wolle ja nur seine tägliche Nahrung und hätte gar nichts davon, wenn alle seine Untertanen sich jeden Tag ängstigten.

Man bestimmte also durch das Los, wer zum König zu gehen hatte, um gefressen zu werden. Das dauerte so eine Zeitlang, bis die Reihe an den Hasen kam.

Dem paßte aber das Gefressenwerden gar nicht und er versuchte darum seine Leidensgefährten aufzustacheln. »Brüder,« sagte er, »wie dumm sind wir doch, daß wir uns freiwillig fressen lassen; wir wollen versuchen, den Löwen zu übertölpeln und seine Herrschaft loszuwerden.« Als die Tiere diese Rede des Hasen gehört hatten, lachten ihn die einen aus, die andern aber meinten, er sei wohl ganz übermütig geworden, daß er bei seinem kleinen Wüchse es wagen wolle, sich mit dem Löwen zu messen. Der Hase aber gab keine Antwort; er ging einfach nicht, als am nächsten Tag die Reihe, gefressen zu werden, an ihn kam. Der Löwe wurde furchtbar böse und wollte schon[161] den ganzen Vertrag zerreißen, überlegte es sich aber doch noch, weil er fürchtete, daß die anderen Könige ihn der Übereilung zeihen könnten.

Erst spät, gegen Mittag erschien der Hase. Er kreuzte eherbietig die Pfoten auf der Brust, wünschte dem Herrscher guten Tag und flehte zu Gott, er möge dem mächtigen König der Tiere ein langes Leben schenken. Der Löwe frug ihn, wie es seinen Untertanen gehe. »Heil dir, o König der Tiere!« antwortete der Hase, »heute früh, als man mit mir noch einen Hasen dir zum Frühstück wegschickte, begegnete uns ein Löwe, der uns frug, wohin wir gingen. Wir antworteten ihm der Wahrheit gemäß, wir gingen um dir zum Frühstück zu dienen. ›Ja, gibt es denn hier noch einen Höhern als mich?‹ frug uns der Löwe, ›dieses Land gehört doch mir, und niemand soll es wagen, meine Untertanen anzurühren‹. Nachdem er so gesagt hatte, nahm er den andern Hasen mit; ich aber getraue mir nicht, die Beschimpfungen zu wiederholen, die er gegen dich ausgestoßen hat.«

Das war Feuer in das Herz des Löwen. »Kannst du mir ihn zeigen?« frug er. »Ja,« antwortete der Hase und führte ihn zu einem tiefen, tiefen Brunnen. »Herr König,« sagte der Hase, »näher traue ich mich nicht, so bin ich heute Morgen erschrocken, als der Löwe uns traf. Denn da drinnen wohnt er. Wenn du mich aber unter deine Achsel nehmen willst, so will ich ihn dir schon zeigen.«

Der Löwe nahm also den Hasen unter die Achsel und setzte die Vorderfüße auf den Rand des Brunnens. Als er im Wasser nun sein Bild erblickte, glaubte er, das sei sein Nebenbuhler mit dem Hasen, den er ihm gestohlen hatte, ließ seine Beute unter der Achsel fahren, sprang hinunter und ertrank.

Das ist ein Beispiel für diejenigen, die alle Vorsicht außer acht lassen, weil sie zu sehr auf ihre Kraft vertrauen.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 160-162.
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