42. Das Zicklein, das Lamm und das Kalb

[166] Ein Hirt führte einmal seine Herde auf die Weide, verlor aber auf dem Wege ein Ziegenböcklein, ein Lamm und ein Kalb. Als es Abend wurde, setzten sich die dreie zusammen an einem Ort nieder. In der Nähe aber hausten ein Bär, ein Wolf und ein Fuchs. Nachts schickten der Bär und der Wolf den Fuchs mit dem Auftrag, die dreie um ein Stückchen Fleisch zum Abendessen zu bitten. Der Fuchs richtete seinen Auftrag aus, das Ziegenböcklein aber gab ihm zur Antwort: »Wir wollten euch selbst um etwas zu essen bitten; heute Abend, als ich einen günstigen Ort zum Nachtquartier für meine Freunde suchte, kam zu ihnen ein Fuchs – oder vielleicht war es ein Wolf, sie erinnern sich nicht mehr daran- und den haben sie in Stücke gerissen und aufgegessen; übrig blieb nur eine Keule, die ich dann aufaß, als ich zurückkam. Aber hungrig sind wir alle noch. Glaube mir nur, Fuchs! Ich schwöre dir bei deinem Leben, nicht ein Stückchen haben wir mehr.« Dem Fuchs wurde bei diesen Worten des Böckleins angst und bang, und er fing an, sich zu retirieren; kaum aber hatte das Böcklein geendet, als er in großen Sprüngen dem nahen Walde zulief; auf seine Gefährten, den Wolf und den Bären vergaß er ganz. Lange warteten diese; als der Fuchs aber wirklich nicht mehr kam, begab sich der Wolf zu den dreien. »Wer seid ihr denn? Seid ihr etwa ein Herrenvolk?« sprach er, »wir haben den Fuchs zu euch geschickt, um etwas zu essen zu holen, warum habt ihr nichts gegeben?«

»Ja, ich wollte euch um dieselbe Gefälligkeit bitten,« antwortete das Böcklein, »heute Abend, als ich einen günstigen Ort zum Nachtquartier für meine Freunde suchte, kam zu ihnen ein Wolf – oder vielleicht war es ein Bär, sie erinnern sich nicht mehr daran – und den haben sie in Stücke zerrissen und aufgegessen; übrig blieb nur eine[167] Keule, die ich aufaß, als ich zurückkam. Aber hungrig sind wir alle noch. Wolf! Ich schwöre dir bei deinem Leben, nicht ein Stückchen haben wir mehr.«

Dem Wolf wurde bei diesen Worten des Böckleins ganz angst und bang, und er fing an sich zu retirieren; kaum aber hatte das Böcklein geendet, als er in großen Sprüngen dem nahen Walde zulief; auf seinen Gefährten, den Bären vergaß er ganz. Lange wartete dieser; da aber weder der Fuchs noch der Wolf zurückkam, ging er selbst zu den dreien.

»Was treibt ihr hier und was habt ihr für ein Recht, euch hier einzurichten?« frug er. »Ich habe meine Kameraden zu euch um ein Stückchen Fleisch geschickt; wo ist das Fleisch und wo sind meine Kameraden?«

»Ich wollte dich um dasselbe bitten,« antwortete das Böcklein, »heute Abend, als ich einen günstigen Ort zum Nachtquartier für meine Freunde suchte, kam zu ihnen ein Bär – oder vielleicht war es ein Wolf – und den haben sie in Stücke gerissen und aufgegessen; ich konnte nur eine Keule bekommen. Aber hungrig sind wir alle noch.«

Dem Bären wurde ebenso angst und bange, wie vorher dem Fuchs und dem Wolf, er tat auch dasselbe und lief in den Wald.

»Jetzt,« sagte das Böcklein zu seinen Gefährten, »jetzt treffen sie sich sicher im Walde, und wenn sie voneinander erfahren, daß wir sie angelogen haben, dann kommen sie und fressen uns auf. Kommt, laßt uns von hier weggehen!«

Sie gingen also in den Wald und fanden einen schrägstehenden Baum. Das Böcklein und das Lamm kletterten hinauf; das Kalb aber konnte nicht klettern und darum setzten sie es auf den untersten Ast. Inzwischen hatten sich der Fuchs, der Wolf und der Bär im Walde getroffen und voneinander erfahren, wie das Böcklein, das Lamm und das Kalb sie angelogen hatten. Sie beschlossen also, die Lügner aufzusuchen. Zuerst gingen sie dahin, wo die dreie ihr Nachtquartier aufgeschlagen hatten, fanden sie aber nicht. Dann verfolgten sie ihre Spuren und kamen[168] zu dem schrägen Baum. Als das Kalb die drei wilden Tiere sah, erschrak es und fiel fast herunter, das Böcklein aber erkannte die Gefahr und rief ihm zu: »Du, Kalb, du nimmst den Größten auf dich; ich packe den Wolf und zerreiß' ihn, und du, Lamm, du fängst dir den Fuchs!« Der Bär, der Wolf und der Fuchs glaubten, diese Tiere besäßen wirklich übernatürliche Kräfte und liefen davon, in den tiefsten Wald hinein.

Das Böckchen aber, das Lamm und das Kalb übernachteten ruhig unter dem Baume, und am nächsten Morgen suchte und fand sie der Hirt und trieb sie zu seiner Herde zurück.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 166-169.
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