41. Der Fuchs und das Rebhuhn

[165] Ein hungriger Fuchs lief einst im Walde umher und erblickte auf einem Baum ein Rebhuhn. Als dieses den Fuchs herankommen sah, erschrak es und stieß einen Schrei aus. Der Fuchs setzte sich unter den Baum, sah das Rebhuhn ganz gerührt an und sprach: »Wunderbar! Bis heute hab' ich geglaubt, ihr Rebhühner schreit mit der Kehle; nun zeigt es sich, daß ihr mit den Augen schreit.« »Nein, Fuchs, du täuschst dich,« entgegnete das Rebhuhn, »wir schreien mit der Kehle und nicht mit den Augen.« »Du weißt ja selbst nicht, was du sagst; wenn du mir nicht glaubst, komm herunter, ich halte dir die Augen zu und wenn du wirklich mit der Kehle schreist,[165] so hast du Recht!« »Ich fürchte mich vor dir,« sagte das Rebhuhn, »du frißt mich ja doch auf.« »Durchaus nicht, Rebhuhn; schon voriges Jahr hab' ich geschworen, daß ich keines deinesgleichen mehr fressen werde; wenn ich meinen Eid breche, muß ich an der Krätze sterben.«

Das Rebhuhn vertraute dem Fuchs und flog vom Baume herunter. Der Fuchs packte es an den Beinen und lachte es gehörig aus: »Wie dumm du doch bist! Kann man mir denn auch nur ein Wörtchen glauben! Jetzt fresse ich dich.« »Nein, Fuchs, so ohne weiteres darfst du mich nicht fressen; du mußt zuerst sagen: bism'illahi 'rrahmâni, 'rrahîmi36, dann wird dir mein Fleisch für ein ganzes Jahr reichen.« Der Fuchs glaubte das, tat den Rachen auf und ... fort war das Rebhuhn. »Wie dumm war ich doch!« sagte er im Selbstgespräch, »ich muß was anderes finden.« Er stellte sich also krank, winselte und ächzte und wälzte sich unter dem Baume umher. Aber nicht lange, denn schon drang der Lärm einer Jagd zu seinen Ohren. »Was ist das für ein Getöse?« frug der Fuchs. »Das ist nichts,« antwortete das Rebhuhn, »das sind Hirten, die einen Wolf verfolgen.« Aber im gleichen Augenblicke kamen schon die Jagdhunde und stürzten sich auf den Fuchs, der mit knapper Not entrann, aber seinen Schweif einem der Hunde überlassen mußte. Müde und hungrig, ohne Schweif und mit Schmerzen in allen Gliedern saß er da und überlegte sich die Sache: »Eine Schande ist es! Haben meine Vorfahren etwa jedesmal bism'illahi 'rrahmâni 'rrahîmi gesagt, wenn sie etwas unternahmen? Ein Rebhuhn hat mich übertölpelt. Es ist wirklich nicht mehr der Mühe wert, weiter zu leben!«

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Arabisch. Im Namen Gottes des Barmherzigen, des Allerbarmers. Die Tschetschenen, von denen die Fabel stammt, sind ja Mohammedaner.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 165-166.
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