52. Chämýts, Sósryqo und Urýsmäg

[186] Chämyts, Sósryqo und Urýsmäg waren uneins darüber, wer von ihnen der älteste und wer der jüngste wäre. Da kamen sie überein, zu ihrer ältesten Schwester in der Stadt Týnty zu gehen und sie darüber zu befragen. Als sie sich auf den Weg machten, legten sie ihre Satteltaschen auf Chämytsens Pferd. Am Hause ihrer Schwester angekommen, forderten sie diese auf, herauszuschauen. Sie[186] aber sprang aus dem Hause und lud sie ein' ins Schlafzimmer einzutreten. Dann trug sie ihnen zu essen auf und bewirtete sie reichlich. »Wir sind nicht ohne Absicht gekommen«, bemerkte einer der dreie. »Was wollt ihr von mir?« frug die Schwester. »Wir sind uneins darüber, wer von uns der älteste und wer der jüngste ist.« »Wißt ihr das wirklich nicht? Der die Satteltaschen auf dem Pferde hinter sich hat, das ist der jüngste.« Chämyts wurde böse und fluchte ihr: »Für deine Lüge soll der braune Esel der Bora dich belegen; denn ich bin nicht der jüngste.« (Wenn man den braunen Esel der Bora so erwähnte, dann pflegte er auch gleich mit freudigem Wiehern herbeizulaufen.) »Sei gnädig,« flehte die Schwester, »laß den Esel nicht zu mir und ich gebe dir, was du willst.« »Gib mir den Zahn des Arqys«, sagte Chämyts. Sie gab ihm den Zahn und setzte ihn ihm zwischen seinen andern ein. Dieser Zahn aber war dafür gut, daß ein Weib, das man liebt und bei dem man keine Gegenliebe findet, sich ergeben muß, wenn aber der Besitzer des Zahnes nichts von ihr wissen will, so verwandelt sie sich in eine Schlange. Als Chämyts nun den Zahn bekommen hatte, ließ er den Esel nicht zu ihr.

Bei den Aläga war Hochzeit; sie hatten nämlich eine erwachsene Tochter. Schon vorher hatte Chämyts Freiwerber zu ihr geschickt; sie hatte ihn aber zurückgewiesen und er war böse auf sie. Als sie erfuhr, daß Chämyts im Besitze des Zahnes sei, bekam sie Angst. Darum hütete sie sich vor ihm. Chämyts aber wußte ein Mittel, um ihr nahezukommen: er hüllte sich in ein Tuch ein und sprang in eine Dreckgrube. Die Leute, die das sahen, bedauerten ihn und auch die Tochter der Aläga kam aus ihrem Hause und schaute zu und sagte: »der arme Mann«. Als Chämyts sie erblickte, zeigte er ihr seinen Zahn und verwünschte sie: »Dein Haus soll einfallen«56. »Wehe,« sagte sie, »der ist gekommen, vor dem ich mich so gehütet habe.«[187] Chämyts aber ritt nach Hause und das Mädchen verwandelte sich in eine Schlange. Die Alägas baten nun Chämyts, er solle gnädig sein und zu ihrer Tochter kommen, sie würden ihm dafür soviel Geld geben, als er fortschleppen könne. »Und wenn ich sterben müßte, gehe ich nicht zu eurer Tochter«, antwortete Chämyts. Als aber zwei Jahre um waren, tat sie ihm doch leid; erging zu ihr, nahm seinen Zahn heraus und rieb sie damit. Sie nahm ihre menschliche Gestalt wieder an, wurde noch schöner als sie früher war und Chämyts machte sie zu seiner Geliebten. Als sie beieinander schliefen, sagte Chämyts: »Du wolltest mich nicht und das hast du mit zwei Jahren Elend bezahlt.« »Ja, was sollte ich mit dir tun?« antwortete das Mädchen, »aber meinetwegen hast du doch in einer stinkenden Dreckgrube gesessen.«

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Eine der schlimmsten Verwünschungen.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 186-188.
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