57. Etsemej, Sohn des Etsej

[198] Eines Tages spielten die Knaben mit ihren Knöchelwürfeln neben der Mühle. Da ertönte plötzlich eine Stimme: »He, ihr da, was ist denn das für ein Spiel? Glaubt ihr, mit solchen Steinchen könnt ihr eure Würfel treffen?« Die Knaben schauten sich erschreckt um; vor ihnen stand ein ungefähr zehnjähriger Junge. Es war Etsemej, der Sohn ihres Fürsten, der irgendwo in der Fremde erschlagen worden war. Sie ließen sich aber nicht weiter stören und setzten ihr Spiel fort. Plötzlich packte Etsemej einen in der Nähe stehenden Mühlstein und rollte ihn genau auf die Reihe der Knöchelwürfel hin, die zu Staub zermalmt wurden. Die Knaben warfen einen erschrockenen Blick auf Etsemej und liefen mit Tränen in den Augen in die Mühle. »Mutter, Mutter!« riefen sie, »Etsemej gibt keine Ruhe und hat uns unsere Wurf el mit dem Mühlstein zermalmt.« »Dem will ich's schon zeigen«, sagte die Mutter, ging hinaus und fuhr ihn an: »Du Grobian, was läßt du meine Kinder nicht in Ruh? Willst deine Kraft zeigen? Wenn du so stark bist, so geh' doch und bring den Kuba um, der deinen Vater getötet hat.« Als Etsemej das hörte, errötete er, ließ den Kopf sinken und ging ganz in Gedanken versunken nach Hause. »Wie oft«, sagte er zu sich selbst, »wie oft hab' ich nun meine Mutter gefragt, wie mein Vater ums Leben gekommen ist; jetzt hab' ich's erfahren. Aber von wem? Von einem ganz gewöhnlichen Weib, die mir vorwirft, daß ich meinen Vater noch nicht gerächt habe.« Weinend warf er sich zu Hause in die Arme seiner Mutter. »Was ist dir?« frug sie ihn und streichelte ihm die Wangen. »Essen möcht' ich, röste mir Mais«, antwortete Etsemej. Die Mutter holte einen Maiskolben, röstete ihn, legte ihn auf einen Teller und brachte ihn ihrem Sohne. »Du sagst immer, daß du mich so lieb hast,« sagte Etsemej, »warum gibst du mir dann den Mais nicht mit[199] der Hand?« Lächelnd streute die Mutter den Mais auf ihre Hohlhand und reichte ihn ihrem Kinde. Etsemej aber faßte sie am Gelenk und drückte so fest, daß seine Mutter aus Schmerz laut aufschrie. »Ach, du schlimmer Sohn, kannst du niemand andern plagen, muß es deine eigene Mutter sein?« rief sie. Etsemej aber ließ nicht los: »So lang du mir nicht sagst, wer meinen Vater ermordet hat und wo seine Rüstung und sein Pferd sind, laß ich dich nicht los.«

»Mein liebes Kind,« sagte die Mutter, die erraten hatte, worum es sich handelte, »du bist noch zu jung dafür, aber wenn es schon sein muß, so wisse: deinen Vater erschlug Kuba, und ihn zu rächen ist deine Tante mit ihrer Schar ausgezogen. Beim Abschied bat sie mich, ich möchte ihr dich zur Hilfe schicken, wenn du einmal groß bist und dich stark genug fühlst, deine Pflicht zu erfüllen, aber jetzt bist du noch schwach und kannst ihr nicht helfen.« »Mutter, beleidige mich nicht; ich fühle mich stark genug, um meinen Vater an Kuba zu rächen. Es tut mir weh und ich schäme mich, mir wegen dieser Sache Vorwürfe von irgendeinem dummen Weibsbild machen lassen zu müssen. Sag', wo ist meines Vaters Rüstung, und wo ist sein Pferd?«

»Hinter der eisernen Türe in unserm Turm«, antwortete ungern die Mutter. Gleich war Etsemej an der Türe und sprengte sie auf. Vor ihm stand in Dunkelheit und feuchter Luft mit blitzenden Augen seines Vaters gutes Pferd. Seit jenem Tage, an dem es seinen Herrn verloren hatte, ließ es niemand an sich heran, nahm von niemandem Nahrung und Trank; aber vor Hunger und Durst hatte es sieben Schichten der Erdrinde schon durchfressen. Als es den Knaben an der Türe sah, warf es sich auf ihn; Etsemej aber faßte es ruhig an der Mähne und führte es hinaus, tränkte, fütterte und badete es. Am folgenden Morgen kam er, kaum daß es Tag geworden war, zu seiner Mutter, um Abschied zu nehmen. »Liebe Mutter,« sagte er, die[200] Pflicht ruft mich, ich muß meinen Vater rächen; ich verlasse dich jetzt. »Denk' nicht zu viel an mich, sondern bitte Gott, er möge mir Kraft und Mut zu meinem Werke verleihen.« Bittere Tränen vergoß die Mutter, umarmte ihren Sohn und schluchzte: »Lieber Sohn, zu früh nimmst du dieses Schwere auf dich; was soll aus mir werden, wenn du umkommst?« Vieles noch stammelte sie; Etsemej aber riß sich los, sprang aufs Pferd und gab ihm einen Hieb mit der Knute. Hoch auf bäumte sich das Tier und flog dahin wie ein Pfeil. Umsonst bemühte sich Etsemej, es zu beruhigen; es stampfte, biß in die Zügel, riß, sprang und lief wie der Wind. Da wallte dem jugendlichen Reiter das Blut auf: er riß am Zügel und drückte dem Pferd mit aller Kraft die Rippen zusammen. Das rote Blut floß dem Tiere von den Seiten und weißer Schaum bedeckte ihm das Gebiß. Da wurde das feurige Tier ruhiger, gehorchte und lief auf dem gewählten Weg schnell weiter,

Niemand weiß, wie lange Etsemej so dahinritt, aber eines Abends kam er in einen dunklen Wald. Bei einer Lichtung stieg er ab, ließ sein Pferd weiden und machte sich daran, Nachtlager und Abendbrot für sich zu bereiten. Er wandte sich nach rechts und erlegte einige Hirsche und Steinböcke; er wandte sich nach links, und Schafe und Ziegenböcke wurden seine Beute. Aus den Fellen dieser Tiere machte er sich ein Zelt zurecht; einen ganzen Hirschen steckte er sich an den Bratspieß. Als er das erste Stück davon kostete, erschienen zwei unbekannte Krieger. Etsemej stand auf und lud die beiden ein, sich zu setzen. Schüchtern folgten sie seiner Einladung und sahen ihn mit verwunderten Blicken an. »Was ist das für ein Wunderding?« dachten die beiden, »klein ist das Kerlchen und mit einer Hand steckt er einen ganzen Hirsch an den Spieß.« Etsemej gab ihnen zu essen und zu trinken und frug dann: »Liebe Gäste, welches Schicksal führt euch hieher? Seid ihr vielleicht aus diesem Lande oder seid ihr auch auf der Wanderschaft, wie ich?« »Uns hat die Fürstin[201] Etsej geschickt, die ihres Bruders Tod an Kuba rächen will. Seit zehn Jahren wartet sie jetzt auf ihren Neffen, weil sie nicht über den angeschwollenen Fluß hinüber kann. Heute aber roch sie den Geruch von gebratenem Fleisch aus diesem Walde und ihr schien es, als ob der Braten mit dem wohlriechenden Salz zubereitet würde, das nur die Fürsten Etsej haben. Da wir dessen sicher sein wollten, kamen wir hierher.« »Nein, die Schwester meines Vaters hat sich nicht geirrt,« versetzte Etsemej stolz, »ich bin ihr Neffe und komme, um ihr Hilfe zu leisten.« Die beiden Abgesandten verneigten sich tief vor ihm und luden ihn ein, gleich mit ihnen den Wald zu verlassen und die Fürstin aufzusuchen. Etsemej war's zufrieden und befahl ihnen, ihm sein Pferd vorzuführen. Bald waren sie alle drei aus dem Walde und erblickten ein Tal, in dessen Mitte unter einem schattigen Baum die Zelte der Fürstin aufgeschlagen waren. Als sie näher kamen, sagte der eine der beiden Krieger zu Etsemej: »Ich muß der Fürstin deine Ankunft melden« und ritt schnell voraus. Als diese von dem Nahen des längst erwarteten Gastes hörte, eilte sie ihm voller Freude entgegen. »Zwar warte ich seit langem auf dich,« sagte sie zu Etsemej, »aber ich getraute mir doch nicht, zu hoffen, daß du so bald kommen würdest. Denn ... was kannst du mir für eine Hilfe leisten? ...« »Das wirst du bald sehen,« antwortete Etsemej stolz, »für jetzt nur soviel: Morgen früh beim Morgengrauen geh' ich weg; du erwartest mich hier mit deinem Heere. Ich bitte euch nur um eines: mich nicht zu stören und euch vollkommen auf mich zu verlassen.« »Nun, wenn du alles auf dich nehmen willst, werden wir dich nicht stören,« meinte seine Tante, »das Sprichwort sagt ja nicht umsonst, der Weiber Haar sei lang, aber ihr Verstand kurz. Wir irren uns in der Tat häufig und in den einfachsten Dingen. Außerdem ist unser Zweck hier Sache der Männer und nicht der Weiber; tu also, was du willst, ich verlasse mich ganz und gar auf dich.«[202]

Mit der Morgenröte setzte sich Etsemej aufs Pferd und verließ das Lager. Als er an das steile Ufer eines großen Flusses gekommen war, zog er den Zügel an und war auch gleich in den Wellen und bald am gegenseitigen Ufer. Dann ließ er die Zügel frei und sein Pferd trug ihn, als ob es die Absicht seines Herrn erkannt hätte, mit Windeseile davon: Felder, Wälder, Berge, Täler, Bäche, Flüsse ... alles flog nur so an ihnen vorbei. Lange rannte das treue Tier, ohne müde zu werden; endlich kam es eines Abends in Kubas Gebiet. Der kühne Reiter kochte vor Ungeduld, seines Vaters Tod an Kuba zu rächen, und da er in der Nähe dessen Pferde weiden sah, warf er sich sogleich den Hirten entgegen, die ihn sofort mit gezogenen Säbeln umringten. Doch war es das letztemal, daß sie ihre Säbel gezogen hatten; Etsemej hieb ihnen allen die Köpfe ab, fing die Pferde ein und trieb sie ins Lager seiner Tante zurück. Als er wieder an den großen Fluß kam, dachte er sich, es sei doch eine gar zu kleine Beute, die er da bringe, und man könne glauben, er sei wie ein kleiner Knabe vor Kuba geflohen. »Nein, das durfte nicht sein; die Pferde konnte ja seine Tante nach Hause bringen und er würde weiter sehen, was zu tun wäre.«

Er trieb also die Herde durch den Fluß und gab einen Schuß ab, um die Seinen darauf aufmerksam zu machen. Sofort umringten seiner Tante Krieger die Herde und beglückwünschten ihn zu seiner Tat. »Du hast dein Wort gehalten,« sagte die Fürstin, indem sie ihren Neffen umarmte, »du hast deine Kraft bewiesen. Jetzt können wir, zwar ohne Krieg, aber mit Ruhm bedeckt nach Hause zurückkehren.« »Ich nicht,« lachte Etsemej, »du bist früher gekommen als ich und deshalb kannst du auch früher heimkehren.« »Aber was gedenkst du zu tun?« frug die Fürstin. »Ich nehme es mit Kuba auf,« antwortete er, »und du treibe die Herden heim, ehe die Verfolger kommen.« Traurigen Herzens gehorchte die Fürstin ihrem Neffen und nahm Abschied von ihm mit den Worten: »Du[203] suchst dir gefahrvollen Ruhm, aber ich kann dich nicht von deinem Vorhaben abspenstig machen.«

Etsemej begleitete seine Tante bis hinter den Wald, dann kehrte er um, ging wieder über den Fluß und ließ seinem Pferde freien Lauf. Eines Mittags rastete er an einem Hügel. Sein Pferd hatte er abgesattelt. Er legte sich den Sattel unter den Kopf und schlief bald ein. Plötzlich hörte er im Schlaf das Wiehern seines Pferdes. Er sprang auf und sah, wie das Tier mit nach vorne gestreckten Ohren und aufmerksam in die Ferne schauend, wie versteinert dastand. »Was mag es nur sehen?« dachte er und suchte selbst die Ferne aufmerksam ab. Und da sah er, daß ganz am Horizonte ein Punkt sich bewegte und immer größer ward. Allmählich konnte er Kopf und Beine unterscheiden; es war ein Reiter. Aber was für ein sonderbares Pferd der hatte: auf sechs Beinen ging es und flog doch wie ein Rabe, der Staub flog wie eine Säule vor ihm her, Dampf sprühte aus seinen Nüstern, auf der Stirne leuchtete ihm ein Stern, in seinen Augen glänzte Feuer, ihm zur Seite sprangen Hasen und unter seinen Füßen flogen Möven hervor! Bald war das Wunderpferd am Hügel, wo Etsemej geruht hatte. »He du, Junge,« sagte sein Reiter, »hast du nicht gesehen, wer mir meine Pferde weggetrieben hat?« »Jawohl, da in der Richtung hin hat ein Mann sie weggetrieben«, sagte Etsemej und zeigte nach Norden. Der Reiter wandte sein Pferd sofort nach der angegebenen Richtung und flog davon. »Flieg nur zu,« dachte Etsemej, »dort wirst du deine Pferde bald finden.« Aber der Reiter kehrte schon wieder zurück und fuhr Etsemej wütend an: »Du nichtsnutziger Bengel, du! Wie kannst du es wagen, mich anzulügen.« »Entschuldige,« sagte Etsemej, »ich war so erschrocken, daß ich mich geirrt habe; jetzt aber erinnere ich mich, dahin hat der Mann deine Pferde getrieben, nach Westen.« Der Reiter ritt nach Westen, kam aber bald wieder und fuhr Etsemej noch härter an als das erstemal, drohte ihm sogar mit der Peitsche. »Verzeih«,[204] sagte dieser, »aber du fährst mich immer so grob an. Jetzt erinnere ich mich ganz genau, nach Osten sind deine Pferde weggetrieben worden. Reit' ihnen nur nach; sicherlich kommst du nicht mit leeren Händen zurück.« »Gib acht,« antwortete Kuba – denn dieser war es – »wenn du mich wieder täuschst, reiß ich dir den Kopf ab.« Sprach's und ritt in der angegebenen Richtung davon; Etsemej aber, zufrieden mit dem, was er angestellt, besichtigte seine Waffen. Es dauerte nicht lange, da kam Kuba zurück. Schon von weitem schrie er: »Diesmal ist es zu Ende mit dir, du unverschämter Bengel! Weißt du, mit wem du dir zu scherzen erlaubt hast? Weißt du, wer vor dir steht und was dich jetzt erwartet? Du bist wahrscheinlich selbst der Dieb meiner Herden. Antworte, dein Leben ist in meiner Hand.« »Vorläufig hast du mein Leben noch nicht,« antwortete Etsemej lachend, »auch gestehe ich es, daß ich es war, der dir deine Pferde weggetrieben hat. Und um dir zu zeigen, daß ich dich nicht fürchte, habe ich dich dreimal in die Irre geführt. Wenn du aber wissen willst, wer dich so beleidigt hat: ich bin Etseijs Sohn und bin gekommen, um meinen Vater zu rächen.«

»Ah, ich verstehe,« sagte Kuba und warf einen verächtlichen Blick auf Etsemej, »nun, wollen wir uns schießen oder miteinander ringen?« »Raufen tun bei uns die Weibsbilder«, sagte Etsemej. Kuba ritt auf einen Gewehrschuß zurück, stieg vom Pferde und ging auf einen Hügel hinauf, Etsemej zog nach dem Gebrauche seines Landes schnell seine Büchse aus dem Futteral und gab den ersten Schuß ab. »Jetzt ist an mir die Reihe,« sagte Kuba, den Etsemej bereits verwundet hatte, »eine halbe Ladung tu ich nur in meine Schwarzläufige, und mit einem Schuß mach' ich ein Ende.« Er schoß und traf den jugendlichen Helden in die rechte Seite, doch machte das Etsemej eben nicht viel aus, er schoß wieder und traf Kubas linke Schulter. Und weiter ging der Kampf; wie Donner krachten ihre Büchsen, wie Sterne blitzten ihre Schüsse und dichter Rauch[205] umgab die beiden. Gegen Abend hatten sie kein Pulver mehr. »Es ist Zeit auszuruhen,« sagte Kuba, »ich reite nach Hause und hole Pulver und Proviant.« »Natürlich, das brauchen wir«, antwortete Etsemej und legte sich nieder. Kuba stieg mit Mühe auf sein Pferd und ritt nach Hause. Um Mitternacht kam er heim, stieg ab und trat in sein Haus, indem er sich auf sein Gewehr stützte. »He, Weib!« rief er schon auf der Schwelle, »komm' schnell und lindere meinen Schmerz; nimm mir auch die schweren Kugeln ab!« Die Gerufene lief eilends herbei, breitete ihm einen Teppich zum Niederlegen aus und rieb ihm den Körper mit einem Tuche ab. Wie Hagel fielen da die Kugeln aus seinem Körper! »Mit wessen Heer hast du denn heute gekämpft?« frug die Frau. »Nur mit einem zehnjährigen Jungen«, antwortete Kuba.

Kaum war es Morgen geworden, da war er schon wieder auf dem Kampfplatz, frühstückte mit dem Gegner, teilte mit ihm nach alter Sitte Pulver und Kugeln und sagte dann: »So, jetzt ist's Zeit, daß wir wieder anfangen.« »Gut«, antwortete Etsemej in aller Ruhe. Wieder fing das Schießen an und am Abend hörte es wieder auf und Kuba sprengte wieder nach Hause, voller Kugeln wie das erstemal. Etsemej konnte sich kaum rühren, aber er war entschlossen, bis zum Ende auszuhalten. Eine schwere Nacht hatte er. Am Morgen kam Kuba wieder, brachte Pulver und Kugeln und die Schlacht ging von neuem an und dauerte bis zum Abend. Kuba ritt nach Hause; ließ sich von seiner Frau die Kugeln herausreiben und ging dann tief in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab. »Oft hab' ich schon mit einem ganzen Heer gekämpft,« sagte er im Selbstgespräch, »aber einen solchen Gegner hab' ich noch nicht gefunden. Jung ist er noch, ein Kind noch; wenn er aber ein Mann wird, wer wird es wagen, mit ihm zu kämpfen?«

Als er am vierten Morgen wieder auf dem Kampfplatz erschien, fand er Etsemej leblos daliegend. »Meine Schwarzläufige hat mich nicht im Stich gelassen,« sagte[206] er schadenfroh, »sie hat ihm alle Glieder zerschlagen.« Er zog dem Toten die Rüstung aus, band den Leichnam an den Schweif seines Pferdes und ritt im Schritt zurück, indem er das Pferd seines Gegners am Zügel führte. Gegen Abend kam er nach Hause, zeigte seiner Frau, was er mitgebracht hatte und sagte: »Schau, mit dem da hab' ich mich drei Tage herumgerauft.« »Mit dem kleinen Jungen? Schämst du dich nicht, gegen ein Kind deine Flinte zu gebrauchen?« sagte die Frau. »Ja, klein schaut er aus, aber in Wirklichkeit ist er ein Held, übrigens will ich eine Wache neben ihm aufstellen, sonst kann ich nachts nicht schlafen.« »Eine Wache? Hat dir der Kleine wirklich einen solchen Schreck eingejagt, daß du an seiner Leiche eine Wache aufstellen mußt?« »Das ist meine Sache«, antwortete Kuba ärgerlich, rief eine Abteilung seines Heeres und befahl ihr, an der Leiche Etsemejs Wache zu halten. Dann ging er schlafen. Aber seine Frau konnte kein Auge schließen, so tat ihr der kleine Junge leid. Sie beschloß ihn mit ihrem Handtuch abzureiben und ihm zu raten, falls es ihr gelänge, ihn zum Leben zu erwecken, er solle sich gleich auf den Weg machen. Sie stand vorsichtig auf, um ihren Mann nicht zu wecken und ging hinaus. Zu der Wache sagte sie, ihr Mann sei nicht ganz wohl und es sei ganz überflüssig, daß sie da an der Leiche herumstünden, sie sollten in Frieden nach Hause gehen. Die Wächter verbeugten sich ehrerbietig vor ihr und zogen ab. Dann machte sie sich mit Zittern und Zagen an die Leiche und fing an, Etsemej mit ihrem Handtuch zu reiben. Wie Hagelkörner so dicht fielen die Kugeln von der Berührung des Wundertuchs aus dem Leibe Etsemejs. Nicht lange dauerte es, so lief ein Zittern durch seinen ganzen Körper und er schlug die Augen auf. Da aber schämte sich Kubas Frau und sie lief davon, ins Haus, zu ihrem Manne. Etsemej folgte ihr vorsichtig. »Mein Feind kommt, mein Feind kommt, mein Feind!« stöhnte Kuba im Schlafe, seine Frau aber beruhigte ihn mit den Worten: »Dein[207] Feind schläft seinen ewigen Schlaf unter der Hut deiner Krieger.« Kuba schlief wieder ein, Etsemej aber kam immer näher. »Ha, da ist er!« entfuhr es wieder Kubas Lippen. »Niemand ist da, und wenn er da wäre, könnte er dir nichts tun. Du weißt es ja, das Schwarze Messer, von dem allein dir der Tod kommen kann, liegt im letzten der Koffer und zwanzig sind es, die da ineinandergeschachtelt in der Ecke stehen«, tröstete ihn seine Frau, und Kuba schlief wieder ein. Aber Etsemej hatte alles gehört; er stahl sich ans Bett heran, zog die Schlüssel vorsichtig heraus und holte sich das Schwarze Messer. Als er sich dann Kuba näherte, fühlte dieser das Kommende, erbebte am ganzen Leibe und wollte etwas sagen, aber schon blitzte das Messer durch die Luft und Kubas Kopf fiel auf den Boden. Dann zog Etsemej den Leichnam aus dem Bett, ganz vorsichtig, daß Kubas Frau es gar nicht merkte und legte sich selbst hinein.

Beim ersten Hahnenschrei erwachte er. »He, Frau,« rief er, indem er Kubas Stimme nachahmte, »steh auf und richte alles her; wir müssen fort, unser ganzes Land ist von Feinden umgeben.« Dann stand er auf, zog seine Rüstung an und tat das Schwarze Messer wieder an seinen Ort. Kubas Witwe hatte gar nichts gemerkt; sie packte ein und glaubte, in der Rüstung stecke ihr Mann. In ein paar Stunden war Kubas Haus leer und für immer verlassen. Als sie nun zum Flusse kamen, sah Frau Kuba das Bild ihres vermeintlichen Mannes im Wasser, wunderte sich, daß er so klein war und sagte: »Wie winzig du im Wasser aussiehst, grad halb so groß als du bist.« »Kleines Beil fällt großen Baum«, antwortete Etsemej spöttisch. Sie wandte sich um und sah sich in der Gewalt des Jungen, dem sie in der Nacht das Leben gerettet hatte, errötete tief und wunderte sich, daß sie von alledem, was vorgefallen war, nichts bemerkt hatte. Als sie an einen dunklen Wald kamen, stieg Etsemej vom Pferde und hob auch seine Gefangene vorsichtig von ihrem Reittier. Dann befahl er seinen Sklaven, Zelte aufzuschlagen, nahm sein[208] Gewehr und ging auf die Jagd. Nach einer fröhlich verbrachten Nacht machte er sich wieder auf den Weg. Gegen Mittag kam er in das Gebiet Sósryqos, der ihm selbst entgenkam, ihn zu seinem Siege beglückwünschte und ihn nach Brauch und Sitte des Landes um Wegzoll bat. »Nimm die mit Gold beladenen Pferde und als Zugabe meine Sklaven«, sagte Etsemej gutmütig. »Das will ich alles nicht,« entgegnete Sósryqo stolz, »gib mir nur Kubas Frau.« »Das ist unverschämt, was du da forderst,« sagte Etsemej mit Verachtung, »soll ich denn mit leeren Händen nach Hause kommen? Und glaubst du etwa, im Geschlecht der Etsej sei einer zu finden, der seine Frau hergibt?« »Dann hetze ich dir meine Krieger auf den Hals«, drohte Sósryqo, »der Sieg wird entscheiden, wem Kubas Frau gehören soll.« »Einverstanden,« erklärte Etsemej, stieg vom Pferde, befahl den Seinen zurückzutreten und schickte sich an, mit Sósryqo und dessen ganzem Heer zu kämpfen. Mit jedem Schuß erledigte er einen Mann, aber schließlich war er doch so geschwächt in dem ungleichen Kampfe, daß er sein Ende kommen sah. »Ich sterbe,« sagte er zu seinem Gegner, »ich bitte dich, meine letzte Bitte zu erfüllen, wenn du dich nicht fürchtest, stelle dein ganzes Heer in einer Reihe auf und trete du selbst zurück.« Hochmütig gewährte Sósryqo die Erfüllung dieser Bitte, Etsemej aber durchschoß mit seinem letzten Schuß alle linken Ohren der aufgestellten Krieger. Dann wandte er sich zu seiner Frau und warf einen letzten Blick auf sie. Die wollte mit ihrem Wunderhandtuch ihm zu Hilfe eilen, aber Sósryqos schlaue Mutter überredete ihren Sohn, das nicht geschehen zulassen. Sósryqo tat, was ihm seine Mutter geraten hatte, er lief Etsemejs Frau nach, überholte sie und schlug Etsemej den Kopf ab. Aber sein Sieg war umsonst, denn die durchbohrten Ohren seiner Krieger kosteten ihm Ehre und Ruhm und machten ihn zum Gespött aller.

Etsemej aber war seinem Vater ein getreuer Sohn gewesen; er hatte seine Pflicht erfüllt und ihn gerächt.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 198-209.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon