56. Urýsmäg, Chämýts und Sósryqo

[195] Die aus dem Geschlechte der Bora – Urýsmäg, Chämyts und Sósryqo – gedachten einmal aufs Stehlen auszugehen. Als sie zur Nartenbrücke kamen, trafen sie Syfýttär63. Sie fingen ihn und forderten ihn auf, ihnen Gutes zu weissagen. »Laßt mich los und von der anderen Seite des Flusses aus werde ich euch segnen.« Als sie seine Bitte erfüllt hatten, sagte er: »Hört! Euer Weg soll so glücklich sein und so viel soll es schneien, daß man die Oberfläche des Schnees nicht mehr sehen kann; unter einem Baum sollt ihr eine ganze Woche bleiben und eure Stiefelsohlen essen müssen.« »O,« sagten die drei, wenn wir weitergehen – »gibts ein Unglück, wenn wir zurückkehren – ist's eine Schande.« Also gingen sie doch weiter und in der Tat schneite es bald so stark, wie Syfýttär vorausgesagt hatte; von einem Sonnabend auf den andern waren sie eingeschneit und zu essen hatten sie rein gar nichts. Da kam ihnen ein Eichhörnchen in die Quere, sie fingen es, aßen es und stritten sich dann um das Fell. »Gebt mir es!« sagte Chämyts, und »nein, mir gebt es,« Urýsmäg. Sósryqo aber meinte: »Wir werden ja doch nicht einig, wir wollen es so machen, wer von uns das Wunderbarste erzählt, der soll es bekommen. Na, Chämýts, fange du an!«

»Ich ging einmal über einen Berg,« fing dieser an, »da saßen die sieben Uástyrdji und hielten Gericht. Ich schoß[195] auf sie; dreie blieben und viere flogen zu Gott und klagten mich an; sie tun es jetzt noch. Ein andermal ging ich über einen andern Berg; da hielten die sieben Uátsilla Gericht. Ich schoß wieder; viere blieben auf dem Platze, die drei andern gingen zu Gott und klagten mich an. So erschlug ich sieben von den Uátsilla und den Uástyrdji, und sieben klagen mich bei Gott an.«

»Chämýts,« sagten die beiden andern, »das war ja kein Unglück für dich. Sósryqo, erzähle du!«

»Ich hatte in der Stadt Týnty eine Geliebte«, fing Sósryqo an. »Eines Tages wollte ich sie besuchen; ich holte also mein Pferd aus dem Stall, tat die Schulterriemen meines Säbels und meines Gewehrs um und ritt weg. Als ich noch eine Wochenreise zu meiner Geliebten hatte, rief mich auf dem Chósfelde ein Schäfer an: ›He du! Bist du nicht der Narte Sósryqo?‹ ›Freilich bin ich's‹, antwortete ich. ›Wohin des Wegs? Deine Geliebte ist ja schon seit einer Woche tot!‹ Ich fing an zu weinen, gab aber dem Hirten zur Antwort, ich würde doch hinreiten und sie aus dem Grabe herausholen. Dann fand ich auf dem Wege einen Strick, der wurde bald länger, bald kürzer. Ein Stück Weg weiter sah ich, wie ein Schweinslederstiefel und ein Saffianstiefel raufen und der schweinslederne des andern Herr wird. Dann kam ich zum Grab meiner Geliebten, grub es auf und kroch selbst hinein; man schaufelte das Grab zu und ich blieb eine Woche lang drinnen. Als meine Geliebte zu verfaulen und zu stinken anfing, kroch ich wieder heraus. Aber als ich noch bei ihr lag, hatte ich gehört, wie in dem Grabe ihrer Eltern junge Hunde bellten. Ich ging also zu meinem Schwager und frug ihn, was das zu bedeuten habe. Er sagte, das käme davon, daß diese Leute, die Eltern meiner Geliebten, den Armen kein Brot gegeben und sie nicht bemitleidet hätten, daß sie auch Reisenden gegenüber hart gewesen seien. Dann frug ich ihn, was der Strick bedeute, den ich gefunden, und den ich mit der Reitpeitsche aufgenommen[196] und auf die Seite geworfen hatte. Das bedeute, sagte er mir, daß zwei Brüder oder ein Vater und sein Sohn ihr Land teilen. Dann frug ich ihn auch, was der Streit zwischen den beiden Stiefeln bedeute. Das bedeute, sagte er, daß die Usdän und die einfachen Leute aus dem Volke gleich werden würden und das Volk stärker als der Adel.«

»Nein, da ist gar nichts Wunderbares dabei«, sagten die andern, als Sósryqo geendet hatte. »Zwar, daß du im Grabe warst, das ist wunderlich, aber das, was du gesehen hast, das nicht. Wir wollen von dir weiter nichts hören. Urýsmäg, jetzt kommst du daran.«

Und Urýsmäg erzählte: »Ich besuchte Uástyrdjis Frau, die mich fein bewirtete. Ich sagte ihr, daß mein Herz nach ihr sich sehne. Sie wurde böse darüber, holte aus ihrem Schlafzimmer eine Peitsche aus Filz, schlug mich damit und ich verwandelte mich in eine räudige Hündin. Da lief ich nun so herum und suchte nach einem Bissen. Die Hunde alle hinter mir her; ich wurde trächtig und warf Welpe. Eines Tages fand mich ein Kaufmann, der mich mitnahm, damit ich seine Schafe hüte. Er band mich an und hing mir um den Hals ein ganzes gesalzenes Schaf. Ich fraß es und wurde satt. Da kamen an die Türe sieben Wölfe und sagten mir, ich solle sie hineinlassen, es fiele auch für mich etwas ab; sogar meinen Namen Urýsmäg wußten sie. Ich aber fiel sie an und erwürgte sie alle. Als der Kaufmann am Morgen aufstand, sah er sie vor der Türe liegen. Er nahm mich in seine Arme, küßte mich und erzählte den Leuten, was ich getan hatte. Als ein anderer Kaufmann, ein Kabardiner, davon hörte, wollte er mich unbedingt haben. Er bekam mich auch und band mir ein Stück Kleienbrot um. Mich hungerte fürchterlich. Wieder kamen sieben Wolfe: ›Laß uns ein, Urýsmäg, du stirbst ja vor Hunger; es fällt auch für dich etwas ab.‹ Ich ließ sie ein und sie fingen an, die Schafe zu erwürgen. Ich selbst half ihnen dabei. Alle habe wir sie umgebracht. Als mein Herr am Morgen in den Stall kam, kriegte ich Angst. Er warf[197] sich auch auf mich und prügelte mich, was in seinen Kräften stand. Ich lief davon und kehrte zu meinem ersten Herrn zurück. Als er mich vor seiner Schwelle liegen sah, sagte er: ›Ich weiß, daß du Urýsmäg bist.‹ Ich kenne ein Mittel, dich wieder zum Menschen zu machen und will es dich lehren. Geh wieder zu Uástyrdjis Frau; sie wird dir eine Suppe kochen, denn sie weiß nicht, wer du bist. Hänge deinen Schweif in die Suppe, dann wird sie zornig werden und dich wieder mit der Peitsche schlagen und du wirst wieder deine menschliche Gestalt annehmen.« Ich tat, wie er mich geheißen hatte, trat aber mit der Pfote in die Suppe, statt den Schweif hineinzuhängen. Sie wurde böse und schlug mich wieder mit derselben Peitsche wie damals. Als sie mich wieder als Mensch vor sich sah, sagte sie: ›Urýsmäg, ich habe es bereut, daß ich dir das angetan habe.‹ Ich antwortete ihr: ›Du hast mich elend gemacht, aber Gott möge dich strafen. Deinetwegen sind mir die Hunde nachgelaufen und deinetwegen habe ich Welpe geboren. Wie komm' ich jetzt zu meinem Wunsch?‹ ›Uástyrdji ist nicht hier,‹ antwortete sie, ›wenn er heute nacht nicht kommt, so bin ich dir zu Willen.‹ Jene Nacht schlief ich bei ihr; ihr Mann kam nicht. Am Morgen ließ ich absichtlich meine Gamaschen in ihrem Schlafzimmer. Uástyrdji kam nach Hause, band sein Pferd an den Pfahl im Hofe und trug seine Rüstung ins Schlafzimmer. Da sah er meine Gamaschen liegen. ›Gott möge sich von dir abwenden,‹ sagte er zu seiner Frau, ›wo kommen denn Urýsmägs Gamaschen her?‹ »Du kannst mich umbringen, wenn du willst, aber verheimlichen werde ich dir's nicht: wir haben heute nacht in diesem Bett zusammen geschlafen.«

Als Urýsmäg geendet hatte, frug er: »Nun, wem gehört jetzt dieses Eichhörnchenfell?« Dann sagten sie zu Chämýts: »Was hast du für ein Unglück gehabt?« und zu Sósryqo: »Wer hat dich geheißen, ins Grab deiner Geliebten zu kriechen?« Und sie gaben das Fell Urýsmäg, weil die Rüden ihm nachgelaufen waren.

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Es ist unbekannt, was dieser Syfyttär eigentlich ist.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 195-198.
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