65. Mingrelisch

[248] Einen Wanderer überraschte einst auf dem Wege zwischen Redut-Kale und Anaklia72 eine regnerische, finstere Nacht. Mitten im Walde, fern von jeder menschlichen Behausung, umringte ihn eine Herde Wölfe, von denen einige es versuchten, ihn vom Pferde herabzuzerren. Das Pferd aber stand still und konnte weder durch Zureden, noch durch Drohungen vom Platze gebracht werden. Was nützte es dem Wanderer, daß er Stäbchen an den Schweif seines Pferdes gebunden hatte73, die Wölfe griffen ihn trotzdem an. Kalter Schrecken packte den Armen, sein Säbel hing ihm machtlos in der Hand. Es blieb ihm nur eines zu tun übrig, um Hilfe zu rufen, was die Lungen hergeben konnten. Da zeigte sich von weitem ein Licht und die Wölfe verschwanden, das Pferd aber lief auf das Licht zu. Das war ein Feuerbrand in der Hand eines Mannes, der in der Gegend ein einsames Häuschen bewohnte und auf die Hilferufe hin herbeigeeilt war. Der Wanderer wärmte sich in der Hütte und erzählte dann seinem Wirte, was ihm begegnet war. Dieser aber hatte viel Schlimmeres zu erzählen.[248]

»Bruder, du glaubst, du seist unglücklich, weil die Insekten da im Wald dich angegriffen haben ... Nein, wenn du wüßtest, was ich zu ertragen habe, wärest du glücklich, daß dir weiter nichts passiert ist. Du siehst, wir tragen hier alle Trauer. Wir waren sieben Brüder, alle Fischer. Oft blieben wir ganze Monate mit dem Schiff draußen und schickten nur einmal die Woche ein Boot mit den Fischen heim. Eines Tages bemerkten wir, als wir eben die Angeln ausgeworfen hatten, daß unser Schiff sich vom Ufer entfernte – irgendetwas zog es und wir konnten es nicht anhalten. Weiter ging die Fahrt und nach einigen Wochen sahen wir vor uns ein felsiges Ufer, aus dem ein Honigbach herausfloß.«

Unser Schiff zog es gerade zu diesem Honigbach hin. Als wir näher kamen, tauchte unter unserem Schiff ein riesiger Fisch auf, der ein Maul hatte über eine Klafter breit. Mit solcher Gier schlang er den Honig, daß der Bach fast versiegte. Das war der größte Fisch, der hier her schwamm um Honig zu fressen, in Anaklia aber fraß er Mais. Es zeigte sich, daß unsere Angeln sich in seinen Flossen verfangen hatten; deshalb hatte er uns mitgeschleppt. Während er nun Honig schluckte, schnitten wir heimlich die Angelschnüre durch. Der Fisch schwamm weg und wir blieben. Aber wir wußten nicht, wo wir waren; aus Freude darüber, Land zu sehen, lachten wir, aus Angst vor unserm weitern Schicksal weinten wir. Dann hielten wir Rat, was nun zu tun wäre und beschlossen, Honig und Wachs aus dem Bache aufzuladen und dann immer in derselben Richtung dem Ufer entlang zu fahren. Eine ganze Woche luden wir, und am Vorabend unserer Abfahrt sahen wir, daß eine Herde Schafe und Ziegen sich dem Honigbache näherte. Der Hirte war ein Riese und einäugig. In der Hand hatte er einen Stock, so dick wie eine Säule, und den drehte er herum wie eine Spindel. Eine furchtbare Angst bemächtigte sich unser. Der Riese zog unser Schiff aufs Ufer und uns trieb er mit[249] seiner Herde fort zu einem großen Gebäude, das mitten in einem Walde stand. Die Bäume waren so hoch, daß man ihre Wipfel nicht sehen konnte. Sogar die Binsen waren so dick und hoch wie bei uns zu Haus die Eichen.

Das riesige Gebäude selbst war aus ungeheuren, unbehauenen Steinen aufgeführt und war innen in verschiedene Räume abgeteilt für das Vieh; besonders hatten die Ziegen, die Schafe, die Lämmer und die Zicklein ihre eigenen Abteilungen. Der Einäugige sperrte uns ein und trieb dann seine Herde weg. Wir bemühten uns, die Türe aufzubrechen, aber umsonst. Wie Mäuse in der Mausfalle trieb es uns vom Morgen bis zum Abend herum. Am Abend kam unser Einäugiger zurück, sperrte seine Tiere ein und machte Feuer. Ganze Baumstämme legte er zu. Dann nahm er einen Bratspieß, holte sich einen fetten Hammel und briet ihn, ohne ihn zuvor auszunehmen. Ja, er tötete ihn zuvor gar nicht, sondern steckte ihn lebendig an den Spieß; das Tier zappelte im Feuer, bis ihm die Augen platzten. Dann fraß er den ganzen Hammel auf, legte sich nieder und fing zu schnarchen an. Am nächsten Morgen fraß er noch zwei Hammel und am Abend holte er sich den fettesten von uns, steckte ihn an den Spieß und fing an, ihn zu braten. Unser Bruder zappelte schrecklich und schrie um Hilfe. Aber was konnten wir tun? Als unserm Bruder die Augen platzten, riß ihm der Einäugige ein Bein aus und warf es uns zu, den Rest aber fraß er selbst auf. Wir begruben das Bein. An den folgenden Tagen kamen dann meine andern Brüder an die Reihe; schließlich blieb nur ich und unser Jüngster übrig. Wir waren fast wahnsinnig vor Schmerz und Furcht und sehnten den Tod herbei – freilich keinen so entsetzlichen. Als er nun den fünften unserer Brüder gefressen hatte und am Feuer lag und schnarchte, stahlen wir beide uns an den Bratspieß heran, den er neben sich in die Erde gesteckt hatte und zogen ihn mit großer Mühe heraus. Dann legten wir ihn ins Feuer und warteten mit Angst und Bangen, bis er[250] glühend geworden war. Den glühenden Spieß aber stießen wir ihm ins Auge. Mit solcher Kraft sprang der Geblendete auf in seinem Schmerz, daß wir glaubten, er würde die Decke durchschlagen, aber er schlug sich nur den Kopf wund. Mit furchtbarem Geschrei rannte er durch das ganze Gebäude, zertrat Schafe und Ziegen, konnte uns aber nicht finden, da wir ihm immer durch seine Beine hindurch entschlüpften. Am Morgen fingen die Tiere an zu schreien, weil sie auf die Weide wollten. Der Riese machte die Türe auf, stellte sich davor und ließ die Schafe und Ziegen einzeln durch seine Beine hindurch hinaus, befühlte aber jedem den Rücken, den Kopf und den Bauch. So tat er bis Mittag. Dann wurde ihm dies zu beschwerlich und er begnügte sich damit, jedem Tier den Rücken zu betasten. Glücklicherweise hatte mein Bruder noch ein Messer, mit dem wir zwei Schafe abhäuteten. Wir hüllten uns dann in die Häute und beschlossen, zwischen seinen Beinen durchzukriechen. Halb tot vor Angst, versuchte ich als erster das Glück. Der Riese merkte nichts und ich war draußen. Mein Bruder folgte. Wir suchten sofort unser Schiff auf, das auch noch an demselben Orte stand. Unsere Hoffnung auf Rettung wuchs. Inzwischen kam auch des Einäugigen Herde herbei. Wir suchten uns die besten Tiere heraus und nahmen sie mit uns aufs Schiff. Kaum aber hatten wir das Ankertau durchschnitten, als der Riese ankam und nach unserm Schiffe tastete. Als wir außer seiner Reichweite waren, riefen wir ihm unsere Namen zu, damit er auch wisse, wer ihm so übel mitgespielt hatte. Voller Wut warf er uns seinen Prügel nach; so heftig; daß das Meer aufschäumte und unser Schiff fast untergegangen wäre. Nach langen Irrfahrten dem Ufer entlang und nach vielen Entbehrungen kamen wir endlich nach Hause.

72

Am Ostufer des Schwarzen Meeres.

73

Die Mingrelier halten es für ein gutes Mittel, den Wolf zu verjagen, wenn man an den Schweif des Pferdes einige Stäbchen bindet.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 248-251.
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