Eine Legende.

[213] Der gute Budda Otschirwani hatte einmal zufällig eine, vom bösen Dokschit zubereitete Schale, in welche die von diesem Dämon für das Menschengeschlecht angeschafften Übel und Kummer eingegossen waren. Otschirwani hatte Erbarmen mit den Menschen und beschloss, das für sie Bestimmte zu vernichten. Doch wohin solches thun? Die Schale irgendwo im Himmel oder in den Wolken verwahren – Dokschit wird sie suchen und gewiss finden; den Inhalt auf die Erde schütten – gerade dies ist nötig, um die Absichten des Feindes der Menschheit zu erfüllen ... Und der gute Budda beschloss, allein in sich selber alles für die Menschen zubereitete Übel zu fassen: mögen sie,[213] die Millionen, glückselig sein, er allein wird für sie leiden! Otschirwani erfasste mit seiner göttlichen Hand die Schale mit dem Übel und trank sie ganz, in einem Zuge, bis zum letzten Tropfen aus.

Seit jener Zeit leidet er unbeschreiblich: sein Körper war blau von der Höllenpein und brennt in ewigem Feuer; sein Gesicht ward tierisch; er stösst furchtbare Wehklagen aus; seine Arme und Beine winden sich, so dass er nicht mehr die ruhig beschauliche, einem Budda gebührende Haltung bewahren kann. Und dennoch erreichte seine Selbstaufopferung nicht vollständig ihr Ziel: er vergass die Schale des bösen Dokschit abzulecken und der Feind der Menschheit bemühte sich, das Gefäss leer findend, von dessen Wänden aufzusammeln, und sammelte noch einen Tropfen Unglücks zusammen, den er dann auch auf die Erde warf. Und dieser Tropfen war es nun, der all das Übel und Elend erzeugte, in denen das Menschengeschlecht bis auf den heutigen Tag verharrt. Wie gross aber wäre jetzt das Leiden der Menschheit, wie böse wären die Leute, wenn Otschirwani nicht fast den ganzen Inhalt der grossen Schale ausgetrunken hätte! ... Wegen dieser grossherzigen That aber wird er gleich den anderen grössten Buddas verehrt und, ungeachtet seines schrecklichen Aussehens, der gute Gott genannt.129

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 213-214.
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