I.

[201] Früh vor Zeiten herrschte in einem gar blühenden Reiche ein Chân Namens Kun-snang (tibet. der Allerleuchtende). Dieser hatte eine Gemahlin genommen, und von derselben ward ihm ein Sohn geboren mit Namen »Sonnenschein«. Als diese Gemahlin aus dem Leben geschieden, nahm der Chân eine andere, und von dieser wurde ihm ein Sohn geboren mit Namen »Mondenschein«. Einstmals nun dachte die Chânin bei sich: »So lange der ältere Sohn Sonnenschein am Leben bleibt, erhält mein jüngerer Sohn nimmer das Reich. Jetzt will ich durch irgend ein Mittel Sonnenschein aus dem Wege schaffen und meinem eigenen Sohne dadurch zur Regierung verhelfen.«

In dieser Absicht stellte sie sich in der Folge einmal krank. Mit lauter Stimme jammerte sie, wälzte sich auf dem Lager hin und her und brachte die Nächte schlaflos[201] zu. So lag sie da. Als der Chân dies sah, sprach er: »Du Holde von reizender Gestalt, was für eine Krankheit ist dir zugestossen?« Darauf versetzte die Chânin: »Als ich noch bei meinen Verwandten verweilte, pflegte sich schon diese Krankheit bisweilen einzustellen. Doch ist der jetzige Zustand mit dem früheren nicht zu vergleichen, die Krankheit ist unerträglich heftig, ganz anders. Ein Mittel wohl gäbe es, doch ist es schwer auszuführen; so bleibt mir jetzt nichts anderes übrig als zu sterben.« Auf diese Worte sprach der Chân: »Was ist das für ein Mittel? Wenn du stirbst, so ist das gleich, als würde das Herz mir durchbohrt; selbst wenn der Thron auf dem Spiele stünde, ich liesse ihn fahren; was ist nötig? sprich.« Darauf erwiderte die Chânin:

»Wenn ich von einem der zwei Söhne, gleichviel von welchem, das Herz in Selamöl geschmort verzehren könnte, dann würde ich Ruhe finden.124 Allein für dich, o Chân, ist es schwer, Sonnenschein hinzugeben, und da Mondenschein, um es gerade herauszusagen, aus meinem eigenen Schoosse hervorgegangen ist, so geht sein Herz nicht durch meine Kehle. Daher giebt es jetzt keinen anderen Ausweg als zu sterben.« So sprach sie. Der Chân konnte die Reden sowie die Krankheit der Gemahlin nicht ertragen und erwiderte: »Zwar bedaure ich unendlich meinen Sohn, mein Mitleid ist unermesslich; aber wenn dein Hinsterben gewiss ist, so werde ich Sonnenschein morgen den Scharfrichtern überliefern.« Ein solches Versprechen gab er.

Das hatte Mondenschein belauscht, eilte zu Sonnenschein und erzählte ihm unter Thränen, was Mutter und Vater beide mit einander gesprochen. »Dass man dich, mein Teurer,« sprach er weiter, »morgen umbringt, ist sicher; wie ist da Rettung möglich?« Auf diese Worte versetzte der ältere Bruder: »Wenn das der Fall ist, so bleib du, deine Eltern ehrend und hochhaltend, allein gesund und glücklich zurück; für mich dagegen ist jetzt die Zeit zu fliehen gekommen.« Mondenschein aber in seinem[202] Herzen sich grämend sprach: »Wenn du, mein Bruder, nicht da bist, so kann auch ich hier nicht bleiben; wohin du auch gehst, ich folge dir nach.« So sprach er und jener willigte ein. Weil aber des anderen Tages schon die Hinrichtung stattfinden sollte, und sie fürchteten, dass, wenn andere es in eben der Nacht noch erführen, diese es der Chânin verraten würden, so erbaten sie sich von ihrem die Opfergaben in Empfang nehmenden Geistlichen vertrocknete Baling-Kuchen125, einen Sack voll, und mit diesem schritten die beiden Brüder am fünfzehnten in der Nacht, als der Mond sein Licht verbreitete, aus dem Palaste und nahmen ihre Richtung gegen Osten. Nachdem sie quer über Berg und Ebene, Tag und Nacht ohne Unterlass, gewandertr waren sie eines Tages an einem wasserlosen, verschlammten Flusse angelangt. Die Lebensmittel waren ihnen ausgegangen, und weil kein Wasser da war, fiel Mondenschein verschmachtend nieder und konnte nicht mehr gehen. Voll tiefen Mitgefühls sprach der ältere Bruder: »Ich will gehen, um Wasser zu suchen; inzwischen harre standhaft aus und warte hier.« Er ging an den Band eines Berges, um Wasser zu suchen, fand aber keines. Als er zurückkam, war der jüngere Bruder vor Durst verschmachtet. Sonnenschein, vom Schmerz überwältigt, barg den Leichnam seines Bruders unter Steinen und flehte um die Vereinigung bei der künftigen Wiedergeburt.

Darauf schritt er über zwei Bergrücken hinweg. Da erblickte er an der Öffnung einer Felsenwand ein rotes Thor. Als er durch dasselbe eingetreten war, sass ein uralter Einsiedler da. Der Einsiedler sprach: »Woher bist du gekommen, o Jüngling? Du scheinst wie von tiefem Mitleid gerührt.« Auf diese Worte erzählte er ihm den ganzen Vorfall bis ins Einzelne. Ein leichenbelebendes Mittel mit sich nehmend, machte sich der Einsiedler samt ihm auf den Weg, rief den jüngeren Bruder ins Leben zurück und brachte ihn mit. »Werdet meine Söhne,« sprach der Einsiedler zu ihnen beiden, und sie wurden seine Söhne.[203]

Dazumal herrschte nahe dieser Gegend ein Chân, gewaltig an Macht und reich an Glanz. Zur Zeit, wo dieses Chânes sowie des Volkes Ackersleute das Wasser auf die Felder leiten sollten, befand sich dort am Ursprung eines Flusses ein grosser Teich. Um die in diesem Teiche befindlichen Drachenfürsten sich durch Opfer geneigt zu machen, musste man ihnen alljährlich einen Jüngling aus dem Tigerjahr126 vorwerfen. Als nun einmal in einem Jahr kein Jüngling aus dem Tigerjahr bei diesem Volk vorhanden war, und trotzdem, dass man nach allen Richtungen suchte, ein solcher auch nirgends aufzutreiben war, sagten die andern Jünglinge: »Am Ursprung dieses Flusses hatte ein uralter Einsiedler einen Sohn aus dem Tigerjahr; als wir das Vieh zu hüten hinausgegangen waren, haben wir ihn gesehen.« Als der Chân das vernahm, befahl er ihn sofort schnell zu holen und sandte drei Boten ab. Diese gingen hin, und als sie an des Einsiedlers Thüre geklopft, kam der Einsiedler heraus und fragte: »Was giebt's?« Sie sprachen: »Des Chânes Befehl lautet also: Du hast einen Sohn aus dem Tigerjahr, meinem Reiche ist er sehr nötig, gieb und sende ihn her.« Der Einsiedler erwiderte: »Was sprecht ihr da? wie sollte ein Einsiedler wie ich zu einem Sohne kommen?«

Mit diesen Worten trat er in seine Grotte zurück, verschloss die Thüre, liess den Jüngling in ein backsteinernes Gefäss kriechen, verschloss die Öffnung, verschmierte sie mit Lehm und stellte es hin, ihm das Aussehen wie von einem Reisbranntweingefäss gebend. Die Abgesandten des Chânes aber kamen heran, zertrümmerten die Thüre und drangen hinein; sie suchten in der Behausung herum, ohne dass etwas gefunden ward. Da sprachen sie: »Da du keinen Sohn hast, so haben wir uns ohne Ursache abgemüht.« Indem sie dabei den Einsiedler mit einem Stocke schlugen, hielt es Sonnenschein nicht länger aus und rief: »Schlagt meinen Vater nicht, ich bin hier.« Damit kam er heraus. Im selben Augenblick fassten sie ihn aber auch schon an[204] der Hand und führten ihn mit fort. Der Einsiedler, vom Schmerz überwältigt, brach in lautes Weinen aus.

»Als sie mit dem Jüngling in den Residenzpalast traten, erblickte ihn die Tochter des Châns, entbrannte in ihrem Herzen von Liebe zu dem Jüngling, vermochte sich nicht von ihm zu trennen und schlang sich um seinen Hals. Die Untergebenen aber stellten dem Chân vor, heute wäre der Tag, wo es Zeit, den Jüngling des Tigerjahres ins Wasser zu werfen,« und der Chân gab den Befehl, ihn hinein zu werfen. Als es Zeit war ihn abzuführen, sprach die Königstochter zu den Leuten: »Werft ihn nicht in das Wasser; wenn ihr ihn aber dennoch hineinwerfen wollt, so werfet auch mich zugleich mit in die Fluten.« Als der Chân das hörte, sprach er: »Dieses Mädchen hat ganz das Reich vergessen; mit dem Jüngling des Tigerjahres nähet sie zugleich in eine Haut zusammen ein und werft sie beide ins Wasser.«

Weil der Chân kurz angebunden war, sprachen die Diener: »Wir werden nach deinem Befehle uns richten,« banden beide zusammen, nähten sie in die Haut ein und warfen sie zur Beschwichtigung der Drachen in das Wasser. Da dachte Sonnenschein: »Wahrlich, wenn man mich, weil ich aus dem Tigerjahr bin, in das Wasser wirft, so geht das an; soll aber diese reizende Königstochter, die in ihrem Herzen von Liebe zu mir erglüht, meinethalben sterben?« So dachte er mitleidsvoll. Das Mädchen aber sprach: »Wenn man mich, weil ich ein niedriges Wesen bin, in das Wasser wirft, so geht das an; diesen reizenden Jüngling aber, wie kann man ihn hineinwerfen?«

Die Wasserdrachen, dieses rührende gegenseitige Bemitleiden, wobei jedes das letzte Wort haben wollte, beobachtend, setzten die beiden aus dem Teiche heraus und liessen sie frei. Als die beiden herausgetreten, begann das dem ganzen Lande nötige Wasser überströmend sich in Bewegung zu setzen. Darauf kehrten die beiden nach ihrer Heimat zurück; der Jüngling sprach: »Königstochter, kehre[205] du jetzt heim in deinen Palast; ich will inzwischen meinen Vater, den Einsiedler, besuchen gehen; bin ich vom Besuche des Vaters zurück, dann wollen wir beide in diesem Leben in aufrichtiger Liebe unzertrennlich als Mann und Frau zusammenbleiben.« Hiermit nahmen sie einander das gegenseitige Versprechen ab, und so kehrte die Tochter in ihren Palast zurück.

Sonnenschein aber, der Sohn, kam vor die Grotte des Einsiedlers und klopfte an dessen Thüre. »Ich bin dein Sohn,« sprach er. »Meinen einzigen Sohn,« versetzte dieser, »hat mir der Chân weggenommen und getödtet; desshalb sitze ich jetzt trauernd da.« Darauf erwiderte jener: »Dein Sohn bin ich wahrhaftig und wirklich; obgleich mich der Chân ins Wasser werfen liess, so bin ich doch, da die Wasserdrachen mich nicht verzehrten, wieder gekommen; mein Vater traure nicht!« Mit den Worten: »Nun, wenn das der Fall ist, so ist es gut,« öffnete er seine Pforte. Der Einsiedler war ganz herabgekommen, Bart und Haare waren zerzaust, völlig entkräftet war er dem Tode nahe. Sonnenschein wusch mit einer Mischung von Milch und Wasser den Körper des Einsiedlers und suchte durch freundliche Worte seine herbe Stimmung aufzuheitern.

Als nun das Mädchen in die fürstliche Residenz zurückgekehrt war, schauten der Chân und das ganze Volk sie mit Verwunderung an und sprachen: »Wahrlich einmal in diesen von den Wasserdrachen bewohnten Teich geworfen, ist es ganz ungewöhnlich wieder herauszukommen; dass dieses Mädchen dennoch herausgekommen, ist wunderbar.« Alle brachten ihre Huldigungen ohne Ende dar, dadurch dass sie die Runde um sie machten, sich vor ihr verbeugten und dergleichen mehr. Der Chân sprach: »Dass die arme Tochter nicht umgekommen, sondern wiedergekehrt, das ist gut; der Sohn des Tigerjahres dagegen ist wohl umgekommen?« »Nicht ist er umgekommen,« sprach sie, »und infolge seines rührenden Mitgefühls bin auch ich nicht umgekommen. Die Drachen liessen sich besänftigen, und ohne[206] dass man nach ihm einen andern Jüngling aus dem Tigerjahr ins Wasser geworfen hätte, liessen sie das Wasser von selbst beständig strömen.«

Auf diesen Bericht sprach der Chân: »Wenn sich das so verhält, so ist das ein grosses Wunder. Wo auch immer dieser Jüngling jetzt sein mag, ladet ihn ein hierher zu kommen.« Also gebot er den Ministern. Die Minister sandten hin ihn abzuholen. Der Vater und die beiden Söhne machten sich auf und als sie in die Nähe des Residenzpalastes gelangt, sprach der Chân: »Sie sind hoher Dankbarkeit würdig, lasst uns ihnen entgegen gehen,« und so ging man ihnen zur Begrüssung entgegen. Der Chân liess sie darauf in das Innere des Palastes eintreten und hiess sie auf kostbaren Sesseln sich niederlassen. Er fragte den Jüngling: »Du bist ein gewaltiges Wunder! Bist du der Sohn dieses Einsiedlers?« »Ich bin,« erwiderte er, »der Sohn eines Chânes. Als meine Stiefmutter, einen Unterschied machend zwischen mir und ihrem eigenen Sohn, mich zu töten beabsichtigte, da bin ich, mich flüchtend zu dem Einsiedler gekommen. Dieser zweite Jüngling hier ist mein jüngerer Bruder.« Und dann erzählte er den ganzen Sachverhalt ausführlich. Da wunderte sich der Chân noch weit mehr und überhäufte ihn mit Ehren. »Wenn das so ist,« sprach er, »so will ich euch zwei Brüdern diese meine Tochter zur Gemahlin geben, und sie mit unermesslichen Schätzen ausstatten; macht euch auf in eure eigene Heimat, ich werde euch hingeleiten lassen.«

Die Eltern gaben ihnen unermessliche Schätze, liessen sie mit einer Geleitsmannschaft von vier Abteilungen begleiten, und so machten sie sich auf nach dem eigenen Reiche. Als sie der Königsburg nahe gekommen waren, sandten sie einen Brief voraus des Inhalts: »Zu dem Chân und Vater sind wir beiden Brüder zurückgekehrt.« Die Eltern, die nach der Flucht ihrer zwei Söhne vom Kummer überwältigt viele Jahre hindurch ihre Besinnung verloren hatten und mit Menschen nicht mehr verkehrten, hatten[207] beim Lesen dieses Briefes eine herzliche Freude und schickten ihnen eine äusserst zahlreiche Gesandtschaft zum Empfange entgegen. Als die beiden Brüder mit unermesslicher Pracht und in der Fülle des Glanzes ihren Einzug in die Königsburg hielten, geriet die frühere Chânin beim Anblick der beiden Söhne in Schrecken, spie geronnenes Blut und starb.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 201-208.
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