Sejdai.[89] 54

Der Frühling kam. In duft'ge Rosenmatten

Verwandelt ist die Welt. Die Rose blüht

An Baum und Strauch, im Abendschatten

Singt heut der Sprosser schon sein Klagelied.


Zur Wonne treibt mit lautem Jubelschallen

Des Frühlings knospenreiche Werdezeit.

Entzücken schwellt die Brust. Sie bringt vor Allen

Den Liebenden der Liebe Seligkeit.


Mit Zier und Schmuck erschien, in goldig-zarten

Gewändern, weiss und rot, der Holden Kranz,

So dass die Welt gleich einem Tulpengarten

Ringsum erstrahlt von ihrer Schönheit Glanz.
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Unendlich war mein Liebesschmerz. Versunken

In ihrem Anblick schwanden mir die Sinn'.

O, tadelt mich nicht, wenn ich wonnetrunken

Wie die Verliebten alle heute bin.


Im Frühlingsaufzug kamen in dem Reigen

Die Rosenwangigen gepaart heran:

Die Lippen, rot, wie dem Rubin es eigen,

Zu zuckersüssen Worten aufgethan.


Und sollten die cypressengleichen Schlanken

Den Schleier lüften, brächt' es sichern Tod

Für Tausende, die von den Blicken sanken; –

Doch ist um Liebe sterben nicht Gebot?


Unendlich viele seh' ich sich ergehen,

Der Augenbrauen Schwung mit Schwarz getränkt;

Von Wang' und Händen Rosendüfte wehen,

Entschleiert und in Schleier tief versenkt.


Nun sagt mir, welcher soll den Kranz ich reichen?

Wie leicht bei so viel Glanz das Auge irrt,

Da Alle strahlend schön dem Monde gleichen,

Da ihrer Schönheit Pracht Sejdai ganz verwirrt?

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 89-90.
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