3. Siaband.1

[327] Siaband war eine Waise. Einst traf er auf der Spitze eines Berges eine Räuberbande und schloss sich ihr an. Bald zeichnete er sich bei der Plünderung eines reisenden Kaufmannes aus und wurde der Liebling des Räuberhauptmannes. Diesen bat er nun, ihn auf eine kurze Frist zu entlassen, und versprach ihm, wiederzukehren. Unterwegs fand er ein Zelt und darin ein bildschönes Mädchen namens Xğasar; diese bezauberte ihn so, dass er dablieb. Kurz darauf kamen die sieben Brüder des Mädchens von der Jagd heim und bewirteten den unbekannten Jüngling. Als Siaband einige Tage später bei den Brüdern um die Hand des Mädchens warb, gaben ihm diese gern ihre Zustimmung; doch solle er ihnen zuvor sieben Töchter eines Täters und einer Mutter bringen. Siaband zog aus und kehrte bald mit sieben Mädchen zurück, deren Eltern er zwei einem Kaufmann abgenommene Säcke voll Gold als Bašlex (Kaufpreis für die Braut) gegeben hatte. Nun erinnerte er sich an das Wort, das er seinem Herrn gegeben, und begab sich zu ihm. Der Hauptmann forderte ihn auf, ihm seine Braut zu bringen und zu zeigen.

Als Siaband zurückkehrte, fand er kein Zelt mehr; von den bewaffnet dastehenden Brüdern erfuhr Siaband, dass seine Braut entführt worden sei, und eilte zu dem El, wo Xğasars Entführer eben den Hochzeitsschmaus[327] veranstaltete. Mit Hilfe einer Alten, die Xğasar einen Ring überbrachte, gelang es ihm, sie auf seinem treuen Ross aus der Mitte der Schmausenden zu entführen. Die Verfolger wurden im Kampfe besiegt, und er machte auf der Spitze des Siphanē Xalath2 halt; ermüdet, legte er seinen Kopf auf die Knie der Xğasar und schlief ein. Da sah sie plötzlich eine wilde Kuh, verfolgt von sieben wilden Rindern; ein junger Stier aber trieb sie von der Kuh fort. Der Gedanke, dass sie sich in derselben Lage befinde, wie die Kuh, entlockte ihren Augen Tränen, die auf Siabands Gesicht fielen. Der Recke erwachte, und wie er das Geschehene erfahren, nahm er seinen Bogen und die Pfeile, holte den Stier ein und erlegte ihn mit einem trefflichen Schuss; dann stürzte er sich mit dem Messer auf ihn, um ihm den Kopf abzuschneiden. Doch dieser schleuderte ihn mit seinen Hörnern so gewaltig empor, dass der zackige Zweig des Baumes, auf den er fiel, ihn durchbohrte und er daran hängen blieb. Xğasar fand den sterbenden Siaband, indem sie seinen abgeworfenen Waffen und Kleidern nachging, und voll Gram sang sie das Todeslied: ›Stier, deine Hörner sind klein. Wie vermagst du den Bräutigam von seiner Braut zu trennen? Siaband, du stöhnst, ich weine. Stöhne nicht, und ich weine nicht.‹

In diesem Augenblicke erschienen die Brüder und führten ihre Schwester fort. Xğasar kehrte jedoch bald zurück und sprang trotz der Bitten des Geliebten zu ihm hinab. Der Baum drang ihr ins Herz, zerbrach und fiel mit dem jungen Paare ins Meer.

1

Diese der voranstellenden Dichtung verwandte Sage hörte ich 1899 auf meiner Forschungsreise im russischen Armenien von dem Kurden Qealaš Abdul Oĝli, einem Jezidi, im Dorfe Qearwansaraj (Gouv. Eriwan).

2

Die Stadt Axlath oder Xlath liegt auf dem Nordwestufer des Wansees.

Quelle:
Chalatianz, Bagrat: Kurdische Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 15-17 (1905-1907), S. 327-328.
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