XIV. Erzählung.
Die Knotennase.

[2] Ohne Aufenthalt gelangte der Chân auf den ihm vom Meister Nâgârģuna gewiesenen Weg, und indem er es bezüglich der Art und Weise sich auf dem Wege zu benehmen wieder wie bisher machte, gelangte er an Ort und Stelle, nahm den Siddhi-K ýr auf den Rücken und wandelte mit ihm dahin. Weil der Tag lang war, so empfanden sie Langeweile. Auf die Aufforderung Siddhi-K ýr's, eine schöne Geschichte zu erzählen, erwiederte der Chân nichts. Siddhi-K ýr sprach: »Wenn du erzählen willst, so gib ein Zeichen; willst du dagegen zu mir sagen: ›erzähle du‹, so gib mir das durch eine auf mich weisende Rückbewegung mit dem Hinterhaupte zu verstehen«. Und als der auf gutem und glücklichem Wandel begriffene Chân das Hinterhaupt rückwärts bewegend auf Siddhi-K ýr hingedeutet hatte, erzählte dieser folgende Geschichte.

Früh vor Zeiten lebten in einer Stadt im Westen Indiens zwei Brüder. Da der ältere Bruder ohne Vermögen[3] war, so wurde er von den Leuten nicht beachtet; mit dem Verkaufe von Kräutern und Holz suchte er sein Leben zu fristen. Während der jüngere Bruder reich war, gewährte er doch seinem altern Bruder keine Unterstützung. Einstmals als der jüngere Bruder alle Leute um sich versammelte und ein grosses Freudenfest veranstaltete, lud er seinen ältern Bruder nicht ein und brachte ihn so um seinen Antheil am Gastmahle. Da sprach die Frau des altern Bruders: »Ach mein lieber Mann, es wäre besser, wenn du stürbest; abgesehen davon, dass du beständig ohne Unterstützung bleibst, bist du auch jetzt wieder um deinen Antheil am Feste gekommen.« »Diese deine Bemerkung«, versetzte der Mann, »ist richtig; ich will denn auch sterben«. Mit diesen Worten ergriff er Beil und Strick und entfernte sich. Viele Berge durchstreifend gelangte er endlich an den Saum eines dichten Waldes. An einem daselbst befindlichen Flusse gab es eine Fülle von Löwen, Tigern und zahlreichen andern derartigen reissenden Thieren. Indem er dem Ursprung des Flusses nachgieng, bemerkte er auf einmal in der Nähe einer grossen Felswand, wie; unter den Tönen einer rauschenden Musik eine Anzahl rüstiger Ḍâkinîs, die Lüfte erfüllend, herabstiegen und sich niederliessen. Aus der Mitte der Schaar flog eine beflügelte Ḍâkinî empor und holte aus einer Felsenwölbung einen Sack herab. In Gegenwart aller öffnete sie denselben, zog daraus einen eisernen Hammer hervor, und sobald sie mit demselben auf den Sack zu schlagen begann,[4] bewirkte sie, dass verschiedene Gegenstände, Speisen, Gewänder, kurz alles was man nur wünschte, aus dessen Innerem zum Vorschein kam. Nachdem die zahlreiche Versammlung ein Mahl veranstaltet hatte, entlockte man abermals dem Sacke Gold, Silber und dergleichen verschiedenartige Kostbarkeiten, Diademe, flatternde Seidenbänder und dergleichen. Die Ḍâkinîs schmückten sich damit, und nachdem sie Tänze und dergleichen Untererhaltungen in manchfaltiger Weise aufgeführt hatten, verschwanden sie in den Lüften. Die erwähnte Ḍâkinî flog mit dem Sacke empor, legte ihn gerade an der frühern Stelle des Felsens nieder und entschwand dann unter dem Rauschen harmonischer Töne gleichfalls in die Lüfte.

Als der Mann an die Stelle kam, wo die Ḍâkinîs versammelt gewesen waren, war daselbst durchaus nichts zu finden. Er hatte aber nicht so bald den auf dem Fels befindlichen Sack bemerkt, als er mehrere Bäume fällte, sich daraus eine Leiter machte, auf der Leiter emporkletterte und den Sack herabholte. Er nahm sofort den im Sack befindlichen Hammer heraus und begann damit loszuklopfen, wobei er dachte: »Möchte doch jegliche Speise, die ich mir nur wünsche, zum Vorschein kommen!« Als die gewünschten Speisen aller Art zum Vorschein kamen, ass er sich an denselben vollkommen satt, und kehrte dann, Sack und Hammer mit sich nach Hause nehmend, zurück.

Seine Frau hatte ihn schon so gut wie todt geglaubt. »Weine doch um meinetwillen nicht«, sprach[5] er, »ich habe auch etwas mitgebracht, uns beiden das Leben zu fristen.« Mit diesen Worten gab er seiner Frau den Sack in die Hand. Diese öffnete ihn, sah hinein und zog daraus allerlei Habseligkeiten und Speisen hervor, so viel sie nur wünschte. In der Folge gaben sie ihren Holz- und Kräuterhandel auf und lebten glücklich und zufrieden.

Die Leute aber steckten die Köpfe zusammen und sprachen zu einander: »Kraft welches Umstandes ist dieser auf einmal so reich und vermögend geworden?« Die Frau des jüngeren Bruders äusserte sich dahin: »Sicherlich ist dein älterer Bruder dadurch, dass er aus unserem Schatze gestohlen hat, so reich geworden.« Der Mann fand das wahrscheinlich und rief seinen ältern Bruder zu sich, wobei er ihn fragte: »Wer hat dir solchen Reichthum gegeben? woher hast du ihn bekommen?« und fügte noch weiter hinzu: »Von meinen Schätzen hast du gestohlen; wenn du sie mir nicht zurückgibst, so werde ich dich beim König anzeigen; er wird dir die Augen ausstechen lassen.« Darauf entgegnete der ältere Bruder: »Als ich an einen fernen, deinem Auge nicht sichtbaren Ort gieng in der Absicht zu sterben, habe ich an einem Felshügel diesen Sack und Hammer hier gefunden.« Dabei erzählte er ihm ausführlich den seitherigen Verlauf der Sache. »Wo ist diese von dir besuchte Stelle?« fragte der jüngere Bruder, »zeige sie mir«. Und kaum hatte er ihm die Stelle bezeichnet und angegeben, als der jüngere Bruder nach dem Beispiele[6] des älteren Beil und Strick mit sich nehmend nach dieser Richtung sich in den Wald begab. Da gewahrte er, dass neben dieser Felswand acht Reihen von Geistern versammelt waren und unablässig laut zusammen heulten. Mit einem Male war er nicht mehr im Stande sich zu verbergen, und während er sich hin und her wendete, ergriffen ihn die acht Geisterreihen. »Das ist sicherlich der Mensch«, riefen sie, »der unsern Sack gestohlen; wir wollen ihn tödten«. So verabredeten sie unter einander in ihrer Erbitterung. Da sprach einer der Dämonen aus ihrer Mitte also: »Was sollen wir ihn tödten? wir wollen lieber seinem Körper ein schlimmes Zeichen aufdrücken und ihm ein solches Aussehen geben, dass er sich nicht in die Nähe der Menschen wagt«. Alle waren mit seinem Vorschlag einverstanden. »Wir wollen«, sagten sie unter einander, »dem Manne die Nase lang ziehen und ihm daran neun Knoten knüpfen und anlegen«. Da knüpften ihm acht Dämonen acht Knoten in die Nase. Ein einzelner Dämon mit langen Haaren rief: »Knüpfe ihm einer für meinen Antheil noch einen Knoten«, und so knüpften sie neun Knoten und legten sie ihm an, worauf die acht Reihen der Dämonen spurlos verschwanden.

Seine Nase schleppend kam der Mann spät in der Nacht nach Hause. Als seine Frau die Nase erblickte, lief sie vor Schreck eiligst davon. »Flieh nicht vor mir,« rief er, »ich bin doch wahrlich derselbe Mensch wie früher; mir ist, als ich mich in der Sache umsehen[7] wollte, ein solches Unglück begegnet! Eine Zeit lang will ich mein Leben noch erhalten, hernach will ich sterben«. Und da die Leute sich von allen Seiten erkundigten, rief er stets nur: »O weh, was ist aus mir geworden!«

Zu der Zeit wohnte in seiner Nähe in einer Felsengrotte ein Lama, der sich dem beschaulichen Leben hingegeben hatte. »Diesen will ich rufen lassen«, dachte er bei sich, »und wenn er erschienen, will ich den Segen von ihm empfangen und dann sterben«. Er liess den Lama rufen. Dieser erschien. Als jener beim Empfang des Segens so dasass, ohne seine Nase zu erheben, sprach der Lama zu ihm: »Was ist dir begegnet? zeig' es mir doch«. Allein der Mann erwiederte: »Es ist unmöglich es zu zeigen; wenn ich von dir den Segen gehört, dann will ich sterben«. »Es verschlägt ja nichts, zeige doch«, sagte der Lama. Als nun der Mann seine Nase zeigte, da lief der Lama vor Schreck davon. Doch rief er ihn wieder zurück, überreichte ihm reichliche Gaben und erzählte ihm ausführlich die ganze bisherige Geschichte. Auf die Frage, ob der Lama wohl ein Mittel habe, die Knoten seiner Nase zu lösen, antwortete dieser: »Ich weiss keines; ich will in den Schriften nachsehen; doch dürfte sich eine Angabe über die Ausführung eines solchen barmherzigen Werkes in den Büchern schwerlich finden. Dein Tod wäre aber eine Sünde«. »Bis morgen«, versetzte jener, »will ich mich an deinen Befehl halten; findet sich aber dann kein Mittel, wie sollte ich da nicht sterben?«[8]

Als der Lama wieder kam, sprach er seine Meinung dahin aus: »Mit dem von deinem ältern Bruder gebrachten Sacke und Hammer wird man diese Nasenknoten lösen können; ein anderes Mittel sie zu lösen gibt es nicht; in meinen Büchern findet sich nicht das geringste darüber«. Sofort schickte er seine Frau zu seinem ältern Bruder und liess ihm sagen, dass er mit in dem von ihm gefundenen Sack und Hammer kommen möge. Allein der ältere Bruder dachte: »Er will mir offenbar diesen meinen Sack und Hammer entreissen«. Da gab ihm jener das Versprechen, ihm die Sachen nicht wegzunehmen. Den Hammer in seinen Gürtel steckend begab er sich nun zu ihm. Er sprach zu seinem jüngeren Bruder: »Was für ein Unglück ist dir begegnet?« Der jüngere Bruder sagte: »Sieh, so schlimm und jammervoll ist es mir ergangen! Ich will dir an Schätzen, so viel nur dein Begehr ist, geben, doch löse mir diese Knoten, indem du mit deinem Hammer meine Nase berührst. Wenn du mich von diesem Leiden befreist, so sollst du von meinem Land und meinem Vermögen die Hälfte erhalten«. Der ältere Bruder sprach: »Wenn das dein Ernst ist, so versprich es mir mit Brief und Siegel«. Als jener darauf das schriftliche Versprechen gegeben, dass, wenn er die neun Knoten sämmtlich löse, er von dem Vermögen und Grund und Boden die Hälfte erhalten solle, und der ältere Bruder dieses schriftlich in seiner Hand hatte, begann er seinen Hammer zu schwingen und um die Nase zu fahren mit dem Ausrufe:[9] »Mögen die Knoten der acht Geisterreihen sich lösen!« Und so oft er ein Mal ausholte, war auch jedes Mal ein Knoten gelöst. Als zuletzt nur noch ein Knoten übrig war, dachte die Frau des jüngeren Bruders: »Mich dauert unser Hab und Gut und das Land; die Knoten zu lösen ist offenbar leicht«, und rief desshalb: »Den einen Knoten brauchst du nicht zu lösen, halt ein!« Der ältere Bruder entgegnete hierauf: »Ihr haltet nicht Schrift und Siegel«, und eilte, sein Beil zu sich nehmend, davon, indem er bei sich dachte: »Wenn ich diesen einen Knoten nicht löse, so ist die Sache noch lange nicht in Ordnung«. Die Frau lief ihrem Schwager nach, und während der ältere Bruder eben zu seiner Thüre eintreten wollte, entriss sie ihm den im Gürtel steckenden Hammer und eilte damit nach Hause. »Sie hat mir den Hammer entrissen«, rief der ältere Bruder und stürzte der Frau nach; doch während er sie noch verfolgte, war sie bereits in ihre Wohnung eingetreten. Indem sie nun unter dem Ausrufe: »Möge der Knoten der acht Geisterabtheilungen sich lösen!« den Hammer nach dem früheren Beispiele schwenkte, schlug das Weib, da sie den Massstab nicht kannte, ihrem Manne die Stirne entzwei, und da ihm das Gehirn heraustrat, so musste er sterben. Die bisherigen Ländereien, die Teiche, die übrigen Habseligkeiten, die Frau, kurz alles nahm der ältere Bruder in Besitz.

Bei diesen Worten der Erzählung rief der auf gutem und glücklichem Wandel begriffene Chân: »Diese beiden[10] Brüder hat offenbar die Frau gegen einander aufgestiftet!« Und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen«, und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« wand er sich los.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 2-11.
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