7.

[330] Ein Bauer, der zum ersten Mal in eine grössere Stadt kommt, findet dort in einem Krämerladen einen Spiegel. Er hatte einen solchen vorher noch niemals gesehen, und als er in demselben sein eigenes Bild sah, glaubte er, das sei ein zweiter Bauer. Er macht dem Mann eine Verbeugung, welche derselbe sofort in gleich höflicher Weise erwidert. Erfreut, einen so manierlichen Genossen gefunden zu haben, ersteht er den Spiegel für ein Geringes und nimmt ihn mit sich nach Hause. »Ich habe heute etwas Schönes und ganz Besonderes mitgebracht«, sagt er zu seiner Frau. – »Lass sehen!« sagt diese, und alsbald erblickt sie in dem Spiegel ein bildhübsches, junges Weib. Da bricht sie in bittere Thränen aus. »Was!« ruft sie. »Konntest Du nicht meinen Tod erwarten, ehe Du Dir ein anderes Weibsbild ins Haus nahmst? Bist Du denn meiner schon überdrüssig geworden?« Der Mann versteht gar nicht, was sie meint, und die Beiden fangen an sich zu zanken. Die Schwiegermutter – die Mutter des Bauers – kommt herzu und fragt nach dem Grund des Zankes. Als[330] ihr derselbe mitgeteilt wird, lässt sie sich selbst den Spiegel geben und erblickt darin das Bild einer alten, runzligen, hässlichen Frau. Sie ist ausser sich. »Was!« sagt sie zu ihrem Sohne. »Wenn Du schon an einer Frau nicht genug hattest, konntest Du Dir dann nicht wenigstens eine hübsche, junge Person mitbringen, die Dir noch hätte Kinder schenken und Dich in der Wirtschaft unterstützen können? Aber was in aller Welt willst Du mit so einer alten Vogelscheuche anfangen? Da hast Du Dein Geld einmal recht unnütz ausgegeben!« – Bei diesen Auslassungen der Alten muss sich der fremde Hörer natürlich die eigentümlichen chinesischen Verhältnisse in der Ehe vergegenwärtigen, wo ja Vielweiberei im eigentlichen Sinne zwar nicht gestattet, es dagegen gesetzlich erlaubt ist, so viele Nebenfrauen zu nehmen, als man will, ohne dass die rechte Frau daraus nach chinesischen Vorstellungen einen Grund zur Eifersucht hernehmen dürfte. Jedenfalls ist ja aber bis hierher die Geschichte recht hübsch und drollig erfunden. Der Schluss aber will unserem Geschmack weniger behagen und entbehrt für uns der rechten Pointe. Ich kann aber natürlich das Ende auch nur so mitteilen, wie ich es erzählen gehört habe: In Folge des immer lauter werdenden Zankes nämlich versammelt sich das halbe Dorf vor dem Hause des Bauern und zuletzt kommt auch noch der Präfekt des Ortes, zu welchem das Dorf gehört, herzu. Er lässt sich den Streitfall vortragen. Aber auch er selber hat noch niemals einen Spiegel gesehen, und als er einen zweiten Beamten ganz von seinem eigenen Range und Aussehen in demselben er blickt, gerät er in grosse Aufregung, und glaubt, es sei ein Gespenst. Er lässt daher einen Priester als Geisterbeschwörer herbeiholen, um das Gespenst »dingfest zu machen«. Es ist nämlich zu bemerken, dass die Beschwörung von Geistern von den Chinesen überhaupt als ein »Festnehmen« und »Fesseln« derselben aufgefasst wird. Die Sache schliesst dann damit, dass der Priester den Präfekten selber wegen seiner un- oder übernatürlichen Dummheit für ein Gespenst erklärt und ihn in Fesseln legen lässt.

Quelle:
Arendt, C.: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke. In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang (1891), S. 330-331.
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