8.

[331] Durchgehends recht hübsch und auch charakteristisch ist wieder meine achte Geschichte.

Ein Mann hatte drei Töchter. Die eine war mit einem jungen Gelehrten verheiratet, der bereits das zweite litterarische Examen glücklich bestanden hatte; die zweite mit einem Offizier, welcher gleichfalls schon durch die zweite militärische Prüfung mit Erfolg durchgekommen war; die dritte hatte einen wohlhabenden Bauern zum Mann. Eines Tages kamen die drei Schwiegersöhne mit ihren Frauen zum Geburtstag des Vaters zum Besuch. Beim festlichen Mahle wurden als Gesellschaftsspiel Verse aus dem Stegreif gemacht, mit Trinken zur Strafe verbunden. Bedingung[331] war, dass die Verse sich auf die persönlichen Verhältnisse des Betreffenden beziehen müssten. Zuerst erhob sich der Gelehrte und sprach:


Mein Pinsel ist tadellos spitz,

Mein Papierbeschwerer ist tadellos rund.

Wenn nächstens die Prüfung für den höchsten litterarischen Grad stattfindet,

Dann wird mein Name als erster auf der Liste der glücklich Durchgekommenen figurieren.


(Die Chinesen bedienen sich beim Schreiben, um ihr dünnes, leicht verschiebbares Papier niederzuhalten, stets eines metallenen Beschwerers entweder in Form eines an den Ecken abgerundeten Rechtecks oder eines Ringes.)

Es erhob sich sodann der Offizier und sagte:


Meine Pfeile sind tadellos spitz,

Mein Bogen ist tadellos rund,

Wenn nächstens die Prüfung für den höchsten militärischen Grad stattfindet,

So wird mein Name als erster auf der Liste der glücklich Durchgekommenen figurieren.


Jetzt wäre die Reihe an den Bauer gekommen. Dieser aber, litterarisch ungebildet, erhob sich zwar gleichfalls, brachte aber kein Wort hervor, sondern stand lautlos da, von Schamröte übergössen. Da tritt seine junge Frau, welche das nicht länger mit ansehen kann, vor und fragt, ob sie an Stelle ihres Mannes einen Vers machen dürfe. Es wird ihr gestattet und sie sagt nun, ohne zu säumen:


Meine Finger sind tadellos spitz,

An meinem Handgelenk das Armband ist tadellos rund,

Wenn mir nächstens Freude zu teil wird,

So werde ich Zwillingen das Leben schenken, von denen der eine die höchsten Stellen in der Civil- Carrière, der andere die höchsten Stellen im Militär zu bekleiden bestimmt ist.


Dergleichen Verse verlieren natürlich viel in der Übersetzung, besonders wenn sie sich, wie hier, auf speziell chinesische Verhältnisse beziehen. Um von der Kürze und dem Klange des chinesischen Originals dem Leser wenigstens eine Vorstellung zu geben, teile ich den Vers der Bäuerin nachstehend auch in lateinischer Umschrift mit:


Wò-ti chĭ-t' ou chièn-shang-chién,

Wàn-shang chó-tsze yüán-shang-yüán.

Hòu-lai wó yao tê-liao hí,

Yì-t ai shêng-hia liá chuang-yüàn.
[332]

(Man spreche die Konsonanten nach englischer, die Vokale nach deutscher Aussprache.)

Quelle:
Arendt, C.: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke. In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang (1891), S. 331-333.
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