Der Oni und die Flüchtlinge.

[404] Am Hofe der Kaiserin Niteo in Kioto, vor noch nicht dreihundert Jahren, begab es sich, daß ein vornehmer Krieger der Leibwache sich in eine der Palastdienerinnen des Vetters der Kaiserin verliebte. Er warb um sie, und es gelang ihm auch, ihre Gegenliebe zu erringen, aber ihr Herr wollte sie nicht ihres Dienstes entlassen. Er blieb gegen alle Bitten der Liebenden taub, und auch die Kaiserin, welche sie ebenfalls um Beistand angingen, wollte sich nicht in die Angelegenheit einmischen. Da faßten die beiden einen verzweifelten Entschluß und entflohen aus Kioto, um in den Bergen einen bescheidenen Zufluchtsort zu suchen; auch gelangten sie bei nächtlicher Weile unbemerkt ins Freie und hofften schon, glücklich davonzukommen, als sie von einem heftigen Regenschauer überfallen wurden. Dasselbe verdarb nicht nur die Wege und erschöpfte ihre Kräfte, sondern es brachte sie auch von dem richtigen Pfade ab, der sonst, da er an einem Flusse, dem Atugawa, hinläuft, kaum zu verfehlen war. So geriethen sie in eine sehr unheimliche, durch Spuk und böse Geister berüchtigte Gegend und waren endlich froh, als sie eine alte Scheune antrafen, in der sie die Nacht zuzubringen beschlossen. Der Krieger spannte seinen Bogen, legte einen Pfeil auf die Sehne und stellte sich an die Thür; seine Geliebte ging in das Gebäude hinein und legte sich zur Ruhe. Nun waren aber die Seitenwände der Scheune so morsch, daß einer der bösen Geister oder Oni, welche in jener Gegend hausten, ohne Mühe in dieselbe einbrach, ohne daß er die Thür zu passiren brauchte, und kaum war er darinnen, so fiel er mit solcher Gier über das arme Weib her, daß er es in wenigen Augenblicken verschlungen hatte. Als er sie packte, rief sie zwar um Hülfe, aber ihr Geschrei, das überdies bald aufhörte, wurde von ihrem Geliebten, der ängstlich nach außen spähete und außerdem von den bösen Geistern berückt war, nicht beachtet. Als der Morgen dämmerte, trat daher der Krieger[405] ohne Arg in die Scheune, fand aber seine Geliebte nicht und begann laut zu klagen. Dies hörte eine Abtheilung der kaiserlichen Leibwache, welche zufällig in der Nähe vorüberging, und bei der sich auch der Bruder des Unglücklichen befand. Diese Leute halfen ihm die Scheune durchsuchen, und da entdeckten sie alsobald die Blutspuren, welche der Oni von seinem scheußlichen Mahle zurückgelassen, und erkannten, daß die Unthat das Werk eines jener schlimmsten aller Gespenster sein müsse, welche Menschen zu morden und zu fressen pflegen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 404-406.
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