Wunderbare Bestrafung eines Mordes.

[423] Ein armer Kaufmann, der in einem der äußeren Stadttheile von Kioto mit seiner Frau und seinem einzigen Kinde, einer Tochter, gar kümmerlich lebte, war einst genöthigt, eine Reise zu unternehmen, und traf auf seiner Wanderung im Gebirge in einem kleinen Wirthshause mit einem Priester zusammen, der sich mit Wahrsagen befaßte und, wie er argloser Weise dem Kaufmanne mittheilte, dadurch in den Besitz einer kleinen Geldsumme gekommen war. Als sie nun ihren Weg zusammen durch eine einsame Gegend fortsetzten, brachte der Kaufmann verrätherischer Weise den Priester, seinen Reisegefährten,[423] um und nahm dessen Geld zu sich. Niemand wußte etwas von dem Verbrechen, und der Kaufmann glaubte schon, er sei außer aller Gefahr vor Entdeckung, als, wenige Tage nach seiner Heimkehr, seine Tochter erkrankte. Die Krankheit verschlimmerte sich sehr rasch; das Mädchen fing an, irre zu reden und erzählte, zum Entsetzen ihres Vaters, die Mordthat, die derselbe verübt, mit allen Einzelheiten. Nun packte den Mörder wilde Verzweiflung; die Angst vor Entdeckung ließ ihn nicht zur Besinnung kommen, und so tödtete er auch noch seine Tochter aus Besorgniß, sie würde die Erzählung ohne alle Rücksicht auf die Anwesenheit Fremder wiederholen und ihn ins Verderben bringen. Aengstlich besorgt, die Spuren dieser That zu beseitigen, warf er den Leichnam in den Fluß, der in der Nähe seiner Wohnung vorbeifloß.

Als er dies aber gethan, bedachte er zu spät, daß er mit der Leiche seiner Tochter alle Kleider derselben und auch einige Schmucksachen, welche sie an sich gehabt, weggeworfen habe. Auch seine Frau machte ihm Vorwürfe über diese Uebereilung, und so ging er den Fluß entlang an eine stromabwärts gelegene Stelle, wo die Leiche dem Ufer nahe kam, und hier nahm er ihr die Kleider ab. Dabei aber ereilte ihn die Strafe des Himmels. Die Polizei sah und ergriff ihn, und obwohl man ihm den Mord des Mädchens nicht erweisen konnte, so war es doch klar, daß er um denselben gewußt haben mußte; denn sonst wäre er der Leiche nicht nachgegangen. Man nahm an, er müsse mit einem Räuber Gemeinschaft gehabt und denselben beherbergt haben, und so ward er zum Tode verurtheilt. Bevor er seine Strafe erlitt, gestand er alle seine Verbrechen, für welche er, wie er reumüthig bekannte, zwiefach den Tod durch Henkershand verdient habe.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 423-424.
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