Kaiser Suinin.

[180] Unter den ältesten Nachfolgern des Kaisers Jimmu und seines Sohnes gedieh das japanische Reich unter dem Schutze der Himmelsgötter mehr und mehr, und friedlich und ohne Störung erbte jedesmal der Sohn den Thron des Vaters. Der Herrschersitz fand seine bleibende Stätte in der schönen Stadt Kioto; die Weisheit, Kraft und Milde der Regenten verschaffte allen getreuen, friedliebenden Unterthanen Wohlstand, die Künste des Friedens blüheten, und wenn in entfernteren Gegenden sich Widersacher erhoben, so wurden sie mit göttlicher Hülfe stets rasch besiegt und vernichtet. Ganz besonders aber rühmen die alten Chronisten den zehnten der Herrscherreihe, Sujin, als weisen Gesetzgeber und milden Regenten, und nicht minder seinen Sohn Suinin, der als sein würdiger Nachfolger den Thron bestieg.

Dieser hatte jedoch gleich nach dem Ableben seines Vaters mit großen Gefahren zu kämpfen, bevor er sich in Ruhe seiner Herrschaft freuen konnte. Er hatte nämlich eine seiner Basen, die wunderschöne Prinzessin Sahobime, geheiratet und war ihr in inniger Liebe zugethan. Der Bruder der Kaiserin aber, Sahobiko, hielt als leiblicher Vetter des Herrschers sich für ebenso berechtigt, auf dem Throne zu sitzen, und sein maßloser Ehrgeiz verleitete ihn, dem Kaiser Suinin nach dem Leben zu trachten. Die Kaiserin selbst, seine Schwester, ersah er zum Werkzeuge[180] seiner ruchlosen Pläne und fragte sie einstmals ganz unerwartet: »Wen liebst du mehr, deinen Bruder oder deinen Gemahl?« Und als sie ihm erwiderte: »meinen Bruder,« da fuhr er fort: »Wenn das wahr ist, so hilf mir, Kaiser zu werden!« Er reichte ihr einen kostbaren, scharfgeschliffenen Dolch und wies sie an, dem Kaiser, wenn er schliefe, mit diesem Dolche den Hals zu durchschneiden.

Nichts ahnend lag ihr Gatte bald darauf im Schlafe, und sein Haupt ruhete auf den Knien seiner Gemahlin. Da zog sie den Dolch, um das Bubenstück zu verüben; allein Reue ergriff sie, und dreimal entsank ihr die Waffe, die sie schon zum Mordstreich erhoben: heiße Thränen quollen ihr aus den Augen und fielen auf Suinin's Gesicht. Dieser fuhr aus dem Schlaf empor und fragte, was es denn gäbe. »Ich hatte einen sonderbaren Traum,« fügte er hinzu. »Ein heftiges Regenwetter kam gegen mich heran, gerade aus der Gegend von Saho, deiner Heimat, und benetzte mein Gesicht. Zugleich aber kroch eine kleine bunte Schlange aus meinem Gewande hervor und ringelte sich um meinen Hals. Was mag der Traum wohl bedeuten?« Da sah die Kaiserin, daß die Götter ihrem Gemahle schützend zur Seite standen, und daß es ihr nicht helfen könne, wenn sie die Wahrheit verhehlen wollte, und so gestand sie ein, wie ihr Bruder Sahobiko sie verleitet habe, ihrem Gemahle, dem geheiligten Herrscher, nach dem Leben zu trachten, wie sie aber Reue gefühlt habe und nicht im Stande gewesen sei, die Schandthat auszuführen.

Der Kaiser, nachdem er dies vernommen, liebte sie nichtsdestoweniger und rächte sich an ihr in keiner Weise. Er sammelte aber ein großes Heer und zog gegen Sahobiko, seinen treulosen Schwager, zu Felde. Dieser erwartete den Angriff muthig in seiner Burg. Da dieselbe aber nicht genügend befestigt war, so ging er eifrig daran, sich zu verschanzen. Da er nun in der Eile nichts anderes finden konnte, so nahm er die großen Reisvorräthe seiner Unterthanen in Beschlag, welche in Ballen gethan und rings um sein Schloß aufgeschichtet wurden. Aus diesem Grunde nannte man das Schloß des Sahobiko die Reisburg.[181]

Die Kaiserin aber liebte in der That ihren Bruder mehr als den Gatten und entfloh diesem, um in der Reisburg das Schicksal ihres Bruders und Mitschuldigen zu theilen. Der Kaiser, der zu spät Kunde davon bekam, als daß er ihre Flucht hätte hindern können, war darüber um so tiefer betrübt, als die Kaiserin, seine Gemahlin, gerade damals die Geburt eines Kindes erwartete, und um nun mit dem Leben der Mutter nicht zugleich das des Kindes in Gefahr zu bringen, hielt er seine Truppen vom Sturm auf die Reisburg noch zurück. Als darauf ein Prinz geboren war, sandte die Kaiserin, gerührt durch Suinin's Liebe und Güte, Boten zu ihm mit der Anfrage, ob er seinen Sohn zu sich nehmen und anerkennen wolle; alsdann möge er ihn holen lassen, sie wolle ihm das Kind ohne Zögern zusenden. Der Kaiser antwortete: »So sehr ich den Bruder verabscheue, so sehr liebe ich die Kaiserin immer noch,« und demzufolge nahm er nicht allein Sahobime's Anerbieten an, sondern befahl auch den Kriegern, welche das Kindlein von ihr in Empfang nehmen sollten, mit diesem zugleich die Mutter zu ergreifen und zu ihm zu bringen. Sahobime aber ahnte, was er vorhatte; sie kleidete sich daher in lose Obergewänder, legte ein lockeres, weites Armband um und schor sogar ihr Haar ab, aus dem sie dann eine Perrücke anfertigte. Als nun die Krieger, welche vor der Festung den Prinzen aus ihrer Hand empfangen hatten, sie ebenfalls packen und mitschleppen wollten, gaben Kleider, Armband und Haarschmuck nach, und die Kaiserin entkam ihnen. Suinin grollte darüber sehr, und besonders wandte sich sein Groll gegen die Juweliere, welche das Armband gefertigt hatten; und man sagt, dieser Zorn des göttlichen Monarchen laste noch heutzutage schwer auf den Goldarbeitern und Juwelieren, so daß, ganz wie es der ergrimmte Suinin ausgesprochen, sie trotz aller Schätze, welche sie anhäufen, keinen Landbesitz an sich zu bringen vermögen.

So blieb denn Sahobime bei ihrem Bruder, und als nun endlich die Reisburg erstürmt ward und in Flammen aufging und Sahobiko fiel, kam auch seine Schwester mit ihm um.[182]

Der Sohn Suinin's und der Sahobime ward zum Andenken an den Brand der Reisburg, der bald nach seiner Geburt stattfand, Feuerprinz genannt und hatte, bevor er – noch vor seines Vaters Ableben – zu den Göttern versammelt wurde, mancherlei wunderbare Schicksale zu erdulden. Er war stumm, und obwohl man ihn auf alle Weise zu erheitern trachtete und besonders das Fahren in Böten und die Jagd auf Wasservögel ihm Vergnügen machte, gab er nie ein Wort von sich. Er war schon bärtig, als man ihn zum ersten Mal einen Ruf ausstoßen hörte, verursacht durch einen wunderbaren Seevogel, eine Art Schwan, der sich hoch in den Lüften zeigte. Der Kaiser ließ nun einen Jäger ausziehen, um dem Vogel nachzustellen, und endlich, nachdem dieser Jäger fast das ganze Reich durchstreift hatte, gelang es ihm, den Vogel in einem Netze lebend zu fangen. Die Hoffnung, daß der Prinz beim Anblicke des Vogels abermals sprechen würde, erwies sich indessen als trügerisch, und so entschloß sich der Kaiser, den Gott Ookuninuschi um Hülfe anzugehen. Er fürchtete nämlich, daß gerade dieser Gott ihm zürne, weil er zu jener Zeit keinen würdigen Tempel besaß, und er erinnerte sich, daß der Gott ihm einst im Traume erschienen war und sich darüber beklagt hatte. So rüstete denn der Kaiser eine Gesandtschaft aus, welche den Prinzen zu dem Stammsitze des Ookuninuschi geleiten sollte, der sich in der Provinz Idzumo an den Ufern des berühmten Sonnenflusses befindet,1 und gab ihr die Weisung, dort einige Zeit zu verweilen. Der Prinz reiste ab und langte glücklich in Idzumo an, wo er seinen Wohnsitz auf einer schöngelegenen Insel im Sonnenflusse nahm.

Der Kaiser Suinin hatte sich in seinen Vermuthungen nicht getäuscht, denn der Gott Ookuninuschi nahm in der That des Prinzen Ankunft in seinem Wohnsitze gnädig auf und heilte ihn nach kurzer Frist. Der Prinz bekam den Gebrauch der Sprache, er konnte nun seine Gedanken ungestört mit[183] seiner Umgebung austauschen und dieselbe empfand darüber die größte Freude.

Diese Freude ward noch größer, als der Prinz die schöne Hinaga, die Tochter des Sonnenstromgottes, heiratete. Diese Hinaga war aber, gleich anderen Wassergöttern, eigentlich eine Schlange, wovon der Prinz, der sie nur als ein schönes Mädchen gesehen, keine Ahnung hatte. Als er nun in der Hochzeitsnacht zufällig erwachte, sah er statt seiner Gattin eine große Schlange neben sich liegen und war darüber entsetzt. Er entfloh eilig; aber Hinaga merkte, daß sie entlarvt sei, und ergrimmt darüber verfolgte sie den Prinzen. Nur mit Mühe und Noth entkam er in einen Nachen; es gelang ihm indessen, auch seine Begleiter herbei zu rufen, und nun ruderten sie mit aller Macht den Strom hinan. Hinaga aber war keineswegs gesonnen, ihren Gatten entrinnen zu lassen; sie schwamm hinter ihm drein und ließ dabei, um die Flüchtlinge sehen zu können, die Wasserfläche von magischem Schein erglänzen. Die Flüchtlinge benutzten deshalb jede Biegung des Stromes, um sich hinter dem vorspringenden Felsufer zu verbergen; zuletzt aber würden sie dennoch erlegen sein, wenn sie nicht endlich das Gebirge erreicht und sich durch dasselbe in eiliger Flucht zu Fuße nach Kioto gerettet hätten.

Der Kaiser war hoch erfreut, seinen Sohn gesund und wohlbehalten nach so manchen Abenteuern wieder zu sehen, und deshalb ward des Prinzen Heimkehr aufs glänzendste gefeiert. Nach Idzumo aber mußte eine besondre Gesandtschaft abreisen, welche dem Ookuninuschi viel Dankopfer überbrachte und ihm einen herrlichen Tempel errichtete.

Kaiser Suinin erreichte ein hohes Alter, als aber mit demselben die unausbleiblichen Gebrechlichkeiten heranzogen, da wünschte er sehnlichst neue Jugendkraft zu erlangen, und zu diesem Zwecke gedachte er, einen seiner Untergebenen nach den Inseln des ewigen Lebens, nach Horaisan abzusenden. Auf diesen Inseln wachsen Früchte, deren Genuß die Tage der Menschen verlängert und ihnen Kraft und Gesundheit verleiht. So sehr aber der Kaiser[184] sich nach diesen Gaben jenes glückseligen Landes sehnte, so war er doch ein viel zu gütiger Fürst, als daß er einen seiner Getreuen gern den Gefahren der weiten Reise hätte aussetzen mögen. Endlich aber erbot sich ein Ritter aus seiner Umgebung, Namens Tajima-Mori, das schwere Werk auf seine Schultern zu nehmen, und machte sich bereitwillig auf den Weg zu den glückseligen Inseln.

Wie es Tajima-Mori möglich geworden, nicht nur diese weit entlegenen Inseln aufzufinden, sondern auch glücklich nach Japan heimzukehren, davon weiß Niemand etwas. Als er nämlich in der Heimat wieder eintraf, war Suinin eben gestorben, und dem Tajima-Mori brach darob das Herz vor Kummer. Er hatte eine Anzahl Orangen mitgebracht, eine Frucht, die bis dahin auf Erden unbekannt war. Da dieselben in dem Lande des ewigen Lebens gewachsen waren, so hätten sie das Leben des Kaisers sicherlich noch lange gefristet, wenn Tajima-Mori nicht zu spät gekommen wäre. Nun opferte man die Hälfte auf Suinin's Grabmale, die andere Hälfte aber ward gepflanzt, und von ihr stammt die Orange, die zwar die Eigenschaft eingebüßt hat, ewiges Leben zu verleihen, die aber ihren herrlichen Duft bewahrt hat und auch, gleich allen Bäumen des glückseligen Horaisan, das ganze Jahr hindurch grünt, blüht und Früchte trägt.

1

S. Göttersage von Sosanoo und Inada.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 180-185.
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