Der Kirin oder das Einhorn.

[319] Unter den göttlichen Wesen, deren Verehrung in Japan seit Einführung des Buddhismus üblich wurde, befindet sich auch eine ganze Reihe von Thiergestalten, deren bekannteste und am häufigsten genannte unstreitig der Drache, als deren merkwürdigste und bedeutungsvollste aber wohl der Kirin zu bezeichnen ist. Er stammt, wie es heißt, von einem Drachen und von einer Kuh, und daher hat er von dieser die Gestalt und die Hufe, aber von jenem das mächtige Raubthiergebiß und ein Horn – nur eins statt der zwei, welche der Drache trägt, was auch Veranlassung des Namens Einhorn ist. Auch hat er die Schuppenbedeckung seines Vaters nebst kurzen Flügeln an den Schultergelenken, und gleich demselben vermag er Feuer zu speien. Er ist so flink, daß er nicht einmal die Thautropfen auf dem Grase abstreift, über das er dahin läuft. Ein Kirin kommt nur äußerst selten zur Welt, und jedesmal verkündet sein Erscheinen das Auftreten eines außerordentlichen Mannes, welcher ein Wohlthäter der ganzen Menschheit zu werden bestimmt ist. Man erzählt, daß solch ein heiliges Thier nicht nur der Geburt des Buddha selbst, sondern auch der des Darma und des Schotokudaischi, und lange vor letzteren auch der des Confucius und des Mencius, der größten aller chinesischen Weltweisen, vorangegangen ist.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 319-320.
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