Die fromme Nonne.

[313] In alter Zeit lebte einst in einem Nonnenkloster ein sehr frommes Mädchen, daß mit großer Sehnsucht die Weihen des Klosters zu erlangen wünschte. Man wies es aber wiederholt zurück und sagte, es sei noch zu jung und möge warten, bis seine Züge zu altern begännen; dann sei es an der Zeit, ganz und gar und unwiderbringlich der Welt zu entsagen. Die Novize aber wollte sich dem Ausspruche keineswegs fügen, und um ihre baldige Einweihung durchzusetzen, entstellte sie ihr Angesicht durch böse Brandwunden, die sie sich beibrachte, damit ihre Vorgesetzten sähen, daß sie in der That sich gar nichts mehr aus den Eitelkeiten der Welt machte. Gerührt durch diese That, gab man ihr nun sofort die Weihe; kaum aber hatte sie dieselbe empfangen, so verschwanden die Narben ihrer Brandwunden augenblicklich bis auf die geringste Spur. Man pries nun die fromme Nonne hoch, und oft ist es noch in spätern Tagen geschehen, daß Novizen in dem Bestreben, bald die Weihe zu erlangen und ein recht gottgefälliges Leben zu führen, ihrem Beispiele gefolgt sind.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 313-314.
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