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[355] Inmitten der jetzigen Hauptstadt des japanischen Reiches, Tokio, liegt ein herrlicher, großer Park, der Park von Uyeno, der durch seine schönen, schattigen Baumgruppen, durch seine Tempel und Anlagen weit und breit berühmt ist. Ein Teich von stattlichem Umfange, einem See vergleichbar, dessen klare Fluthen die eine Seite des Parkes bespülen, trägt nicht wenig dazu bei, zu jeder Zeit des Tages zahllose Spaziergänger in diese Gegend der Stadt zu führen, die sich der mannigfaltigsten Reize der Natur erfreut.
Doch noch ehe die große Stadt Tokio entstand, ehe man an die Schöpfung des prächtigen Parkes von Uyeno dachte, lag schon der Teich in seiner ruhigen Größe da, und auch ein Tempel, den man vor uralter Zeit in die Mitte des Wasserspiegels gebauet, war bereits vorhanden. Dieser Tempel nun ist der Göttin Benten geweiht, von der es heißt, daß sie Schönheit, Glück und Kindersegen verleiht, und deshalb pilgern viel tausend Menschen dorthin, um der Göttin ihre Wünsche vorzutragen. Vornemlich sind dies außer der Jugend kinderlose Eheleute.
Und so geschah es denn auch einstmals, daß zwei Ehepaare, welche keine Kinder besaßen und sich sehnlichst Nachkommen wünschten, zum Tempel der Benten wallfahrteten, ihr Geschenke weiheten und inbrünstige Gebete an sie richteten. Die Göttin erhörte denn auch die Wünsche beider Ehepaare und bescherte dem einen derselben einen bildschönen Sohn, dem anderen eine überaus schöne Tochter. Das Glück der Eltern war unbeschreiblich[355] groß, und sie waren der Göttin für die Erhörung ihrer Gebete so dankbar, daß kein Jahr verging, ohne daß sie zum Tempel zogen und mit den Kindern vereint ihr Dankgebet verrichteten.
Als nun aber die Kinder, welche mit denselben Gefühlen der Verehrung wie ihre Eltern zum Tempel kamen, sich dort öfter und öfter sahen, da erwachte eine tiefe Zuneigung in beider Herzen, und als sie erwachsen waren, da ward dieselbe so groß, daß sie meinten, ohne einander nicht leben zu können, und beschlossen, einander zu heiraten. Die Eltern waren beiderseits über diesen Entschluß ihrer schönen Kinder erfreut und machten nicht die geringsten Einwendungen; allein trotzdem wurde die Absicht der Liebenden immer und immer wieder durch unzählige Hindernisse vereitelt. Und diese unvorhergesehenen Hindernisse hatten in nichts geringerem ihren Grund, als in dem Widerstreben der Göttin selber gegen die Heirat der jungen Leute. Sie betrachtete diese beiden Kinder, welche zur nämlichen Zeit durch ihre besondere Gunst das Licht der Welt erblickt hatten, gleichsam als ihre eigenen und daher als Geschwister, und da es sündhaft und höchst verwerflich wäre, wenn Schwester und Bruder sich heiraten wollten, so trat die Göttin ihnen hindernd in den Weg. Das unglückliche Liebespaar sammt den Eltern hatte von dieser Willensmeinung der Göttin natürlich keine Ahnung, und so pilgerten sie Alle, als der Tag kam, an dem sie alljährlich den Tempel zu besuchen pflegten, gläubigen Herzens dorthin, um noch einmal in brünstigem Gebete der Göttin ihren Wunsch recht sehr ans Herz zu legen.
Die Göttin blickte denn auch mit Milde zu den Flehenden herab; da sie aber von ihrer Entscheidung nicht abweichen konnte, so machte sie in anderer Art der Qual der Liebenden ein Ende und verwandelte beide, den stattlichen Bräutigam und die liebliche Braut, in ein Paar große Schlangen, welche rasch durch das Gras am Wege fortkrochen und sich in den klaren Fluthen des Teiches verloren.[356]
Als die beiden Kinder vor den Augen ihrer Eltern verschwanden, waren diese erschrocken und achteten kaum der Schlangen, die sie sich entfernen sahen; sie stießen laute Klagetöne aus: wo waren ihre Kinder geblieben? wo sollten sie dieselben suchen, wo sie finden? Jammernd irrten sie umher, sahen aber nirgends ihre Kinder, auch in ihren Wohnungen nicht, die sie endlich wehklagend wieder aufsuchten. Da, in der Nacht, erschien endlich das Mädchen seiner Mutter im Traume und verkündete ihr, daß die Göttin allerdings ihr Gebet erhört habe, denn sie lebe mit ihrem Geliebten bei der Benten und sei gleich ihm in eine Schlange verwandelt. Die Göttin, welche sie beide damals ihren Eltern geschenkt, habe sie nun wieder zu sich genommen, und habe auf solche Weise ihrem Liebesleid ein Ende gemacht.
Und da wurden Alle wieder zufrieden, als die Mutter des schönes Mädchens dies ihrem Gatten und dem anderen Ehepaar erzählte, und folgsam und ruhig fügten sie sich dem Willen der Göttin. Die Schlangen aber wurden hochverehrt. Man bauete ihnen dicht am Tempel der Göttin Benten ein kleines Tempelchen mit niedriger Thür, das noch heute vorhanden ist, und wenn die Priester darauf Acht geben, sehen sie oft die Schlangen durch die kleine Thür in ihr Heiligthum kriechen. Doch nur selten sehen andre Menschen die heiligen Thiere, denn nach kurzer Frist gehen beide Schlangen stets in den See zurück, wo sie, namentlich im Sommer, wenn die breiten Lotosblätter den Teich bedecken, bald jedem Auge entschwunden sind.