Die Weide von Mukoschima.1

[357] Zur Zeit, als noch Räuberbanden ungehindert das japanische Land durchzogen, da ward einst ein kleiner Knabe, Namens Umewaka, in der Gegend von Kioto geraubt. Der Räuber schlich sich Nachts in das Haus, er nahm das Kind sacht und leise von der Seite seiner ruhig schlafenden Mutter und lief mit ihm davon.

Als am Morgen die Mutter Umewaka's erwachte und den Raub des Kindes entdeckte, da stieß sie jammervolle Klagetöne aus und suchte vergebens überall ihren Knaben; er war und blieb verschwunden.

Nicht minder als seine Mutter klagte der arme Umewaka selber, doch der Räuber kehrte sich nicht daran. Er schleppte ihn zu seinen Genossen, und diese bewachten den Aermsten streng, so daß er nicht entfliehen konnte und unter den größten Beschwerden und Anstrengungen mit ihnen durch ganz Japan, bis weit in den Norden und wieder fort von da, ziehen mußte. Als der Knabe aber endlich, von Heimweh geplagt, seinen Mühsalen erlag und die Räuber einsahen, daß ihm nicht mehr zu helfen war, da ließen sie ihn liegen, wo sie sich eben befanden. Ein mitleidiger Mann fand den sterbenden Knaben vor seiner Thür; er wollte ihm alle mögliche Hülfe angedeihen lassen, allein es war zu spät. Der arme Umewaka bat ihn noch, eine Weide auf sein Grab zu pflanzen, dann schloß er unter Klagen, daß er seine Mutter nicht mehr sehen könne, die müden Augen für immer. Der Mann, ein Einwohner von Mukoschima, erfüllte nicht nur die Bitte Umewaka's und pflanzte eine schöne Weide auf dessen Grab, sondern er veranstaltete auch eine würdige Todtenfeier.

Gerade als dieselbe begangen ward, kam Umewaka's Mutter in Mukoschima an. Die arme Frau, von Kummer und Sehnsucht[358] nach ihrem geraubten Kinde geplagt, hatte keine Ruhe zu Hause gehabt und zog aus, um dasselbe zu suchen. Sie hatte bereits viele Ortschaften durchwandert, als sie in Mukoschima anlangte und hier vernahm, daß die Feier, welche man beging, eben dem Gedächtnisse ihres Kindes gelte. Sie brach am Grabe ohnmächtig zusammen. Nachdem sie aber wieder zu sich gekommen, flehte sie inbrünstig zu den Göttern, daß sie ihr den Sohn erscheinen lassen möchten, und die Götter erhörten ihr Gebet: Umewaka erschien seiner Mutter um Mitternacht.

Als der Morgen grauete, war er verschwunden; allein da fiel der Blick der trauernden Mutter auf die Weide, und als nun die Lüfte durch deren Zweige zogen, da horchte sie auf und sagte: »Das ist meines Sohnes flüsternde Stimme, die zu mir spricht!« Nun ließ sie einen kleinen Tempel zu Ehren Umewaka's bauen; das Volk aber, welches von der Begebenheit hörte und sie weiter erzählte, ehrt noch heute Umewaka's Andenken, und eine große Schar von Menschen pilgert alljährlich um die Zeit der Kirschblüthe zu der Kapelle. Der Tag dieser Wallfahrten ist der fünfzehnte Tag im dritten Monate, wo man in Japan das Erwachen des Frühlings festlich begeht. Wenn es nun aber an diesem Tage regnet, dann sagen die Leute: »Umewaka weint.«

Die Weide wird sichtlich von den Göttern beschützt; kein Sturm und kein Wetter schadet dem Baum, und selbst der Schnee, der sich auf ihre Zweige legt, hat niemals einen derselben geknickt.

1

Eine der Vorstädte von Tokio.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 357-359.
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