Tawaratoda.

[331] Nicht weit von Hamamatsu, einer östlich von Kioto in der Provinz Totomi an der Oststraße Japans belegenen Stadt liegt das Dorf Tschitta, in dessen Nähe eine große Brücke über den Yokatagawa führt, deren Länge um so auffälliger ist, als sie durch eine Flußinsel in zwei Theile getrennt wird.

In der Nähe dieser Brücke, welche nach jenem Dorfe Tschittanohaschi, die Brücke von Tschitta, genannt wird, lebte einst ein grausiges Ungeheuer, ein riesiger Tausendfuß oder, wie ihn die Japaner nennen, Mukade; daher man auch den Hügel, auf dem er hauste, den Mukade-Berg nennt. Dieser giftige Tausendfuß machte die Heerstraße sehr unsicher, und Niemand wagte es, ihm Trotz zu bieten. Ganz besonders gefährlich war er zur Nachtzeit, und alsdann wuchs seine Kühnheit so sehr, daß er sich sogar an der Brut der Drachen vergriff, welche im Wasser unter der Brücke wohnten, und daß er ohne alle Scheu vor der gewaltigen Stärke dieser Drachen die hülflosen Jungen umbrachte. Daraus entstand nun ein hartnäckiger, grimmiger Streit zwischen dem Mukade und den Drachen.

Trotz ihrer göttlichen Kraft vermochten diese dem Tausendfuß in seinem Verstecke nichts anzuhaben; deshalb triumphirte er und setzte seine nächtlichen Raubzüge fort, bis endlich dem Drachengeschlecht eine unerwartete Hülfe zu Theil ward. Ein Held aus dem berühmten Geschlechte der Minamoto, Tawaratoda mit Namen, kam des Weges und hörte von den Drangsalen, welche die Bewohner der Gegend von dem Tausendfuße zu erdulden[331] hatten, und kühnen Sinnes zog er vor die Höhle desselben und erlegte ihn mit seinen Pfeilen, welche er so kräftig abschoß, daß sie durch die dicke Haut des Ungethüms drangen und es endlich todt zu den Füßen des Helden niederstreckten. Man sagt, daß die Länge des Tausendfußes die doppelte Manneshöhe noch übertroffen habe.

Als die Drachen und Meeresgötter diese herrliche That wahrnahmen, kamen sie zu dem Helden und brachten ihm ihre Huldigungen dar. Sie prophezeiten ihm, daß sein Geschlecht die größte Macht auf Erden erlangen würde. Dies traf dann auch ein, denn etwa 250 Jahre später riß Yoritomo, demselben Geschlechte entsprossen, alle weltliche Macht als Schogun an sich, und später noch gelang es zweimal Zweigen seiner Familie, den Aschikaga und den Tokugawa, auf Jahrhunderte jene Würde und damit alle Herrschermacht an sich zu bringen.

Ein kleiner Tempel, in nächster Nähe des Dorfes Tschitta und am Mukade-Berge belegen, bewahrt noch heutzutage den Namen des tapferen Tawaratoda.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 331-332.
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