Uraschimataro.

[59] Es war einmal ein frommes Ehepaar, das hart an der Küste wohnte und sich vom Fischfange nährte. Ein einziger Sohn war das Glück der beiden Alten, und da derselbe sehr wohl gerathen und brav war, so klagten sie nie über ihr hartes Tagewerk, sondern verbrachten in Zufriedenheit ihre Lebenstage. Der Sohn hieß Uraschimataro, das bedeutet: Sohn der Meeresinsel. Er wuchs zu einem schönen, beherzten Jüngling heran, und da er die Stütze seines Vaters beim Fischfange wurde, so sah man ihn täglich selbst bei Wind und Wetter auf die See fahren. Niemand im Dorfe, das wegen seiner Fische in der ganzen Gegend berühmt war, wagte sich so weit hinaus auf das Meer wie er, und manchmal sagten die Nachbarn zu seinen Eltern: »Wenn euer Sohn so tollkühn bleibt, so erlebt ihr noch einmal ein Unglück, die Wellen werden ihn begraben und eines Tages wird er nicht zu euch zurückkehren.« Doch Uraschimataro kümmerte sich nicht um diese Reden, und da er stark und unerschrocken seinen Kahn zu lenken wußte, so waren seine Eltern auch ohne Sorge.

Eines Morgens, bei klarem, hellem Wetter, als er seine schwer gefüllten Netze aus dem Wasser zog und in seinen Kahn entleerte, fand er unter den Fischen eine kleine, allerliebste Schildkröte. Er freute sich sehr darüber und warf sie in ein Holzgefäß. Da plötzlich redete ihn das Thier an und bat gar jämmerlich[59] um sein Leben. »Schone mich,« so sprach es, »was kann ich dir nützen? Ich bin ja noch so jung und klein und möchte so gern noch leben; wenn du barmherzig bist und mich frei giebst, so werde ich dir erkenntlich sein, das verspreche ich dir.«

Mehr bedurfte es nicht; Uraschimataro war viel zu gutmüthig, als daß er hätte irgend Jemand einen Wunsch abschlagen können, und deshalb ergriff er sofort die Schildkröte und setzte sie wieder ins Wasser.

Jahre waren verflossen, und Uraschimataro trieb nach wie vor jeden Morgen seinen Kahn hinaus auf das weite Meer. Eines Tages aber überraschte ihn, als er sein Fahrzeug gerade um einen Felsen lenkte, ein gewaltiger Wirbelwind, der die Wogen aufwühlte und den Kahn zertrümmerte. Uraschimataro ward in das Wogengebrause hinein geschleudert; da er aber gut schwimmen konnte, so verzagte er nicht, sondern theilte mit kräftigen Armen die Fluth und suchte das Ufer zu gewinnen. Da sah er plötzlich eine große Schildkröte auf sich zu schwimmen, die ihn anredete und deutlich, trotz des Sturmgeheuls, folgende Worte zu ihm sprach: »Ich bin die Schildkröte, der du einst das Leben gerettet hast; ich will nun meine Schuld ab tragen und mich dankbar bezeigen. Das Ufer ist noch weit entfernt; du würdest es ohne meine Hülfe nimmermehr erreichen. Steig deshalb auf meinen Rücken; ich bringe dich, wohin du willst.« Uraschimataro ließ sich das nicht zweimal sagen und nahm die Hülfe seiner Freundin dankbar an. Doch kaum saß er auf ihrem Rücken, so machte sie ihm den Vorschlag, für heute nicht an den Strand zurückzukehren, sondern sich von ihr tragen zu lassen, wohin sie wolle. »Du wirst Wunder schauen,« sagte sie; »es wird dich nicht gereuen.«

Uraschimataro war höchlich erstaunt, willigte aber ein und tauchte schon im nächsten Augenblicke mit der Schildkröte unter, in die Tiefe des Meeres hinein. Hei, wie rasch ging es fort und fort durch die blauen Fluthen dahin! Der kühne Jüngling wußte kaum, wie ihm geschah, und so schwamm er drei Tage[60] lang, bis endlich die Schildkröte bei einem riesigen Palaste Halt machte. Derselbe war aus Krystall und köstlichem Gestein erbaut und flimmerte von Gold und Silber, von leuchtend rothen Korallen und schimmernden Perlen. Die Schildkröte führte Uraschimataro in den Palast, und wenn er schon draußen ganz erstaunt über die Pracht und Schönheit desselben gewesen war, so wuchs seine Verwunderung noch, als er hineintrat. Da gab es eine unbeschreibliche Pracht, goldene Früchte, mit Perlen bestreuete Blätter, strahlende Edelsteine, und an den Wänden glitzerten rings umher köstliche Fischschuppen wie tausend Lichter.

»Wohin hast du mich gebracht?« fragte Uraschimataro seine Führerin leise.

»In den Palast Riugu, in das Haus des Meeresgottes, dem wir alle unterthan sind,« entgegnete die Schildkröte; »ich aber bin die erste Dienerin seiner Tochter, der unvergleichlich schönen Prinzessin Otohime, die du bald sehen wirst.«

Uraschimataro blickte noch immer verwundert um sich und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Die Schildkröte aber, welche ihrer Herrin viel von dem schönen Jüngling erzählt hatte, und welche auf den Wunsch der Prinzessin ausgezogen war, um ihn herbeizuführen, ging nun hin, um die Ankunft Uraschimataros zu melden. Und als die Prinzessin ihn sah, fand sie ihn so schön, wie die Schildkröte ihn beschrieben, und deshalb ließ sie ihn festlich empfangen und bat ihn alsogleich, für immer bei ihr zu weilen; der Lohn dafür solle ewige Jugend und Schönheit sein. »Du wirst nie und nimmer altern,« sprach sie schmeichelnd, und da sie so schön wie die Sonnenkönigin selber war und so liebenswürdig und reizend bat, so willigte Uraschimataro ein und blieb bei ihr. Nun führte er mit der Prinzessin das glücklichste Leben; in lauter Freude und Wonne verging die Zeit. Wie lange das war? er wußte es nicht und kümmerte sich nicht darum.

Doch plötzlich überkam ihn inmitten allen Glückes eine große, unbeschreibliche Sehnsucht nach seinen guten Eltern. Er[61] konnte, so viel er auch dagegen ankämpfte, dies Gefühl nicht verbergen und saß eines Morgen so traurig da, daß es der Prinzessin ganz unmöglich war, ihn aufzuheitern. Endlich fragte sie ihn nach seinem Kummer, und da gestand ihr Uraschimataro ganz aufrichtig, daß er Sehnsucht nach seinen Eltern habe und nicht leben könne, wenn er sie nicht wiedersähe. Die Prinzessin war darüber sehr erschrocken. Vergebens stellte sie ihm vor, daß dieser Wunsch für ihn die größte Gefahr mit sich bringe. »Ich werde dich verlieren, wir sehen uns nie wieder,« klagte sie unter Thränen. Doch Uraschimataro blieb fest und sagte traurig und beklommen: »Ich muß meine Heimat, meine Eltern wiedersehen! Doch will ich gern zu dir zurückkehren, wenn du es befiehlst.«

Traurig senkte die schöne Prinzessin das Haupt und seufzte tief. »Es giebt wohl ein Mittel, dich sicher zurückzubringen,« sprach sie, »doch fürchte ich, du wirst die Bedingung, welche daran geknüpft ist, nicht erfüllen können.«

»Ich werde alles thun, um zu dir zurückzukehren,« entgegnete Uraschimataro und blickte sie treuherzig an; doch die Prinzessin blieb traurig – ihr sagte eine Ahnung, daß sie ihn verlieren würde. Dennoch stand sie auf und holte eine kleine goldene Büchse. Diese übergab sie Uraschimataro und ermahnte ihn mit vielen eindringlichen Worten, sie gut zu verwahren und vor allen Dingen sie nie und nimmer zu öffnen. »Kannst du diese Bedingung erfüllen,« sprach sie ernst, als sie ihm Lebewohl sagte, »so brauchst du nur deine Freundin, die Schildkröte am Strande herbeizurufen, und sie bringt dich auf dem dir bekannten Wege zu mir zurück.« Tief gerührt dankte ihr Uraschimataro und gelobte nochmals, ihrem Geheiße unverbrüchlich Folge zu leisten. Er verwahrte die Büchse gut in seinem Gewande und setzte sich auf den Rücken der bereit stehenden Schildkröte, die ihn von dannen trug, indessen ihm die Prinzessin traurig nachblickte.

Sie schwammen abermals drei Tage und drei Nächte und[62] landeten glücklich am heimatlichen Strande. Die Schildkröte sagte ihm Lebewohl und verschwand in den schäumenden Wellen.

Uraschimataro nahete sich raschen Schrittes und fröhlich seinem Dorfe; er sah den Rauch von den Herden aufsteigen, er sah die alten Strohdächer aus den grünen Gebüschen hervorragen, er hörte der Kinder fröhliches Rufen und Jauchzen, er hörte die Klänge des Koto1 aus einer Hütte am Wege und jubelte voller Entzücken und Freude über die heißersehnte Heimkehr.

Aber wie wurde ihm plötzlich bange ums Herz, als er weiter durch die Straßen wanderte! Alles war verändert, kein Haus, kein Mensch war ihm bekannt. Hastig lief er dem Hause seiner Eltern zu; ja, es stand wohl noch da, aber es hatte ein fremdes Aussehen. Beklommen fragt er die Bewohner nach seinen Eltern, doch sie kannten den Namen nicht und wußten ihm keine Auskunft zu geben.

Aufgeregt und unglücklich lief er auf den Friedhof, den einzigen Platz, der ihm Rath und Hülfe in seiner Noth geben konnte. Hier waren ja alle guten Götter zugegen; sie würden ihm gewiß Aufschluß über diese sonderbaren, qualvollen Augenblicke geben. Und er hatte sich nicht getäuscht – nach kurzem Suchen fand er die Gräber seiner Eltern, und die Steine zeigten eine Jahreszahl, welche nicht viel von der verschieden war, die man schrieb, als er fort in den Palast der Meeresprinzessin gezogen war. Er verrichtete sein Gebet und blickte um sich, und immerfort sah er Gräber mit jüngerem Datum. Und endlich fand er, daß dreihundert Jahre verflossen sein mußten, seit er seine Heimat verlassen.

Schaudernd lief er die Dorfstraße zurück, um sich zu erkundigen, und da hörte er nur zu gut, daß es so und nicht anders war. In Verzweiflung holte er die Büchse der Prinzessin Otohime hervor – vielleicht umgab ihn ein böser Zauber, und sie konnte ihn retten! Fast mechanisch drehte er sie auf[63] und sah einen purpurnen Dunst daraus hervorsteigen. Er hielt verwundert die leere Büchse in der Hand und sah, wie diese Hand, welche noch vor einem Augenblicke die kräftige Hand eines Jünglings gewesen, nun zusammengeschrumpft, faltig und knochig wie die eines steinalten Mannes war. Er ging zu dem klaren Bache, der aus dem Berge daherfloß, und besah sein Bild in der spiegelglatten Fläche; ein mumienhaftes Antlitz blickte ihm daraus entgegen. Entsetzt und bis zum Tode ermüdet, schleppte er sich durch das Dorf – Niemand erkannte in dem alten, alten Manne den kräftig schönen Jüngling, der erst vor einer Stunde durch die Straßen lief. So ging er mühselig weiter, bis er an den Strand des Meeres kam. Hier setzte er sich nieder und rief vergebens nach der Schildkröte; sie kam nicht mehr, und so erlöste ihn bald der Tod. Vorher aber hat er den Leuten, die ihn einsam am Strande sitzen sahen und herbeikamen, um ihn zu trösten, seine Erlebnisse mitgetheilt, und diese erzählten sie weiter und weiter und priesen den braven, guten Sohn, der aus Liebe zu seinen Eltern alle Pracht und alle Wunder des Palastes der schönen Meeresprinzessin verlassen hatte. Und so preist man ihn noch heute, und wenn ein Sohn in die Ferne zieht, so ermahnen ihn seine Eltern, dem Beispiele Uraschimataros zu folgen und im höchsten Glück nie die Eltern und die Heimat zu vergessen.

1

Saiteninstrument, S. Märchen von Kätzchens Entführung, S. 56.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 59-64.
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