Vorwort.

[9] Eine Sammlung japanischer Märchen und Sagen ist gewiß in mehr als einer Beziehung berechtigt, das Interesse der europäischen Leserwelt in Anspruch zu nehmen. Zuvörderst sind dieselben für den Ethnologen sowohl als für das Publikum im allgemeinen ein geradezu unentbehrliches Hülfsmittel, den Charakter, die Denkart und die Veranlagung des japanischen Volkes kennen zu lernen. Nicht nur der Stoff, auch die Art der Behandlung der mythischen Traditionen, selbst solcher, die von Haus aus nicht dem eigenen Boden entstammen, ja schon die Auswahl der wirklich populär gewordenen Objekte giebt ohne alle Frage eine der besten Handhaben für die Beurtheilung eines Volkes ab. Die sittlichen Anschauungen desselben, seine Gefühls- und Geschmacksrichtung liegen ungleich klarer vor uns, sobald wir seine volksthümlichen Ueberlieferungen kennen; ohne diese Kenntniß aber geht uns immer ein gutes Stück seines Charakters verloren.

Aber selbst ohne alle Rücksicht auf die ethnologische Bedeutung der hiermit dem Publikum gebotenenen Sammlung ist sie sicherlich schon an und für sich der Beachtung werth. Der Genuß, welchen uns die phantasiereichen, oft anmuthigen, oft ergreifenden Märchen und Sagen des Orientes immerdar bereiten, wird gewiß auch manche der japanischen Mythen zu Lieblingen von Jung und Alt machen, und es möchte nicht zu viel behauptet sein, daß unsere Leserwelt voraussichtlich gern aus diesem frischen Borne schöpfen werde, der uns bisher wenig bekannt war.[9]

Will man indessen das Vergnügen, das die abenteuerlichen Gebilde der Phantasie eines fernen Volkes uns zu verschaffen vermögen, minder hoch in Anschlag bringen, so sind doch die japanischen Mythen unbedingt für das Studium der vergleichenden Mythologie von Wichtigkeit. In dieser Hinsicht verleiht schon die eigenthümliche Lage Japans und die Stellung, welche seine Bewohner den Kulturerscheinungen des östlichen Kontinentes gegenüber einnehmen, den mythischen Erzählungen derselben eine gewisse Bedeutung. Nicht ohne Ueberraschung wird man gewahr, daß sich manches in jenem äußersten Winkel der alten Welt erhalten hat, was auf dem Kontinente verrieben und verblichen ist; und wenn diese Dinge in Japan vielfach umgemodelt und auf urwüchsige, uns fremdartige Erscheinungen aufgepfropft erscheinen, so thut dies doch den engen Beziehungen zu den übrigen Ländern des ostasiatischen Kulturkreises keinen Eintrag, und diese Beziehungen sind vielleicht nur um so interessanter, als eine Rassenidentität und eine Gemeinsamkeit oder wahre Verwandtschaft der Sprache durchaus nicht vorliegt. Wie nun alle sonstigen Kulturzweige, so weisen auch die Sagen zu einem großen Theil auf einen hohen Grad von Abhängigkeit hin, in welchem Japan seit unvordenklichen Zeiten von den benachbarten Theilen des asiatischen Festlandes gestanden haben muß.

Ganz besonders gilt dies von den Göttersagen und älteren Heldensagen, und wenn wir diese näher betrachten und analysiren, so finden wir, wie schon lange vor den buddhistischen Importen naturreligiöse Ueberlieferungen von Korea und China nach Japan gedrungen sein müssen, welche im Verein mit den autochthonen Vorstellungen, mit dem urheimischen Ahnenkultus, jenes eigenthümliche Produkt, den Schintoo und seine Sagenkreise schufen, deren Verständniß in Europa noch äußerst mangelhaft genannt werden muß. Auf diesen Punkt werfen nun gerade die Sagen und Märchen der Japaner wesentliche, ja unentbehrliche[10] Schlaglichter. Es ist allerdings nicht möglich, hier auf die vergleichend-mythologischen Erörterungen einzugehen, zu welchen diese Sagen und Märchen in reichem Maße Veranlassung geben, vielmehr habe ich, theils um gegenwärtige Schrift nicht allzu umfangreich werden zu lassen, theils um sie dem Volke einschließlich der Jugend durchweg verständlich und zugänglich zu erhalten, alle derartigen Auseinandersetzungen auf ein später zu edirendes, ergänzendes Werk über die Mythologie der Japaner aufgespart. Darauf möchte ich jedoch in aller Kürze hinweisen, daß manche der Sagen mit ihren Wurzeln tief in den indochinesischen Kulturkreis hineinreichen, daß aber namentlich sich zwei Wege ergeben, auf denen von Südkorea aus sich solche Sagenkreise nach Japan verbreiteten, über Idzumo und über Kiuschiu oder, wie der alte Name dieser Insel lautet, über Tsukuschi. Diese Sagenkreise begegneten sich dann in Yamato und verbreiteten sich von dort aus vereint weiter nach Osten. In mancher Beziehung tritt der Charakter dieser Sagen als Produkte einer Naturreligion um so deutlicher hervor, je näher wir dem Ort und dem Zeitpunkte der Einführung treten; je weiter man sich davon entfernt, desto mehr verschwimmen jene Züge in den eigentlich volksthümlichen Charakter des reinen Ahnenkultus, das heißt der mit hoch gesteigertem Gespensterglauben Hand in Hand gehenden Verehrung der persönlichen Vorfahren. Schon hierdurch wird uns die Thatsache vor Augen geführt, daß jenem urwüchsigen Seelenkultus nur in zweiter Instanz, so alt immerhin diese Phase des Schintoo sein mag, das Dogma hinzugefügt wurde, daß zu den persönlichen Vorfahren eines jeden Japaners Gottheiten zu rechnen sind, welche im Grunde nichts andres als personificirte Naturmächte darstellen, und unter denen die Sonnengöttin Amaterasu oder Tenjodaijin als Stammmutter des Herrschergeschlechtes die hervorragendste Rolle spielt. Hierdurch erklärt sich denn auch, wie[11] der Schintoo schließlich zu einer das Gemüth wenig befriedigenden Staatsmaschinerie sich ausbildete, bei welcher die alten, gemüthvolleren Seiten des Ahnenkultus mehr in den Hintergrund treten.

Die Erkenntniß, daß eine richtige Auffassung des Schintoo, der doch immer einen der wichtigsten Schlüssel für das Studium des Japanerthums abgeben muß, ohne ein eingehendes Studium der mythischen Überlieferungen der Japaner unmöglich sei, kam daher zu jenen erstgenannten Gesichtspunkten hinzu, um mich zu veranlassen, daß ich einen längeren Aufenthalt im eigentlichen Mittelpunkte des modernen Japan, in Tokio, und mancherlei Beobachtungen auf Reisen im Lande dazu benutzte, mir, wie in die geistigen Leistungen des Volkes überhaupt, so auch in ihre volksthümlichen Erzählungen und Traditionen einen besseren Einblick zu verschaffen, als ihn unsere Literatur zu gewähren im Stande war. Diese Aufgabe erwies sich allerdings bald als eine sehr schwierige, und wenn nicht mancherlei günstige Verhältnisse mir zu Hülfe gekommen wären, so würde sie keinenfalls auch nur annähernd so vollständig ausführbar gewesen sein, als ich sie in vorliegender Schrift zu bieten vermag.

Zunächst darf ich wohl sagen, daß frühere Studien auf dem Felde der vergleichenden Mythologie mir sowohl einen geeigneten Ausgangspunkt, als ein Mittel der Orientirung boten, ohne welches ich keinenfalls mit gleicher Sicherheit hätte vorgehen können. Alsdann aber muß ich meine regen Beziehungen zu fast allen Gesellschaftskreisen der Japaner, bis zum niederen Volke hinunter, hierher rechnen. Namentlich als sich mir die »gesprochene Sprache« mehr und mehr erschloß, lernte ich nicht nur durch das eigentliche Volk schätzbares Material kennen, sondern ich nahm auch wahr, wie viel vollständiger, belebter und besser motivirt die mündlichen Mittheilungen waren als jede schriftliche Aufzeichnung in japanischer Sprache. Unstreitig verleitet bei Abfassung von Büchern oft schon die Schwierigkeit[12] des Ausdruckes für abstrakte Dinge die japanischen Autoren, so sehr sich viele von ihnen im Ausmalen von Kleinigkeiten und Nebendingen gefallen, in der Hauptsache gar oft zu einer Art von epigrammatischen Kürze; die trockne Thatsache genügt ihnen, die Motivirung wird weggelassen oder nur in einer für Fremde kaum ersichtlichen Weise angedeutet. Dazu kommt die gekünstelte Schreibweise mancher Japaner; sie suchen häufig sogar in einer gewissen Dunkelheit der Sprache ihren Ruhm, und die japanischen Leser, die auf der anderen Seite in das Errathen der nur angedeuteten Gedanken ihren Stolz setzen, bestärken sie darin. So kommt es, daß bei den schriftlichen Aufzeichnungen weit mehr als beim Reden das wegbleibt, was der Erzählende als selbstverständlich voraussetzt, was dem Japaner auch in vielen Fällen selbstverständlich ist, während der Ausländer, und namentlich Jeder, der in Japan fremd ist, dem gegenüber rathlos dasteht. Alles dies gestaltet sich beim mündlichen Verkehr weit günstiger. Die an sich ungefüge, wenig entwickelte Sprache gewinnt hier durch größere Ausführlichkeit der Mittheilung, durch subjektive Einschaltungen, durch fast unwillkürliche Gefühlsäußerungen, oft schon durch den Ton der Stimme und durch Mienen und Gesten in hohem Grade an Deutlichkeit und Nachdruck; und wo dies alles nicht genügt, geben Zwischenfragen stets ein Mittel ab, das Verständniß zu vervollständigen.

Wenn aber die volksthümliche Erzählung eine unentbehrliche Grundlage meines Unternehmens genannt werden muß, so war doch die Beihülfe mir näher stehender gebildeter Japaner unbedingt ebenso wichtig, und ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, hier meinen Freunden in Tokio und in Sonderheit meinen ehemaligen Assistenten und vorgeschritteneren Zuhörern von der Universität daselbst meinen herzlichen Dank für die vielfache Unterstützung auszusprechen, welche sie mir fast beständig zu Theil werden ließen. Mancher derselben, unter denen ich die[13] Herren Nischi, Kato, Sekino, Fujitane, Jokoyama und Kotschibe hervorheben möchte, hat werthvolle Beiträge für mich gesammelt, und ganz besonders vermittelten die Darstellungen derselben die mündliche Wiedergabe mit der schriftlichen, indem sie an jene sich anschlossen und diese in jeder Weise erläuterten. Dies war namentlich im Beginne meines Aufenthaltes in Japan um so wichtiger, als natürlicher Weise damals die von allen jenen Herren kundig gehandhabte englische Sprache die einzige war, durch welche ich eingehende Belehrung erlangen konnte. Auch möchte ich nicht unterlassen, zu erwähnen, wie bereitwillig und rasch diese meine japanischen Freunde auf den objektiven Standpunkt eingingen, den ich zu ihrer anfänglichen Ueberraschung sowohl der gläubigen, als der skeptisch-deutelnden Tendenz gegenüber festhielt, welche innerhalb und außerhalb Japans bis jetzt im Grunde die einzig maßgebenden Gesichtspunkte waren, von denen aus man die japanische Mythologie betrachtete.

Alsdann darf ich nicht unterlassen, der sehr wesentlichen Hülfe zu gedenken, welche ich meiner Frau, C.W.E. Brauns, zu verdanken habe, die schon vor Erscheinen gegenwärtiger Schrift Gelegenheit gefunden hat, ihr richtiges, eingehendes Verständniß des japanischen Wesens weiteren Kreisen darzulegen, aber auch an dem Zustandekommen vorliegender Sammlung einen so bedeutenden Antheil hat, daß sie als Mitarbeiterin derselben bezeichnet werden muß. Nicht nur durch Sammeln von Beiträgen, insbesondere bei den ihr in hohem Grade zugänglichen japanischen Frauen, sondern mehr noch durch Theilnahme an der Uebersetzung der Märchen und Sagen und an der definitiven Formgebung hat sie mich in einer Weise unterstützt, wie es Niemand auch nur annähernd vermocht hätte, der nicht in so hohem Grade mit Japan und seinen Bewohnern vertraut ist.

In einer Beziehung habe ich durchweg eine skeptisch-kritische Haltung bewahren zu müssen geglaubt, nämlich bei der Benutzung[14] der Mittheilungen von Erzählern von Fach, der Theaterstücke und musikalischen Recitationen. Die Willkür, welche namentlich in letzter Zeit die Japaner bei der Behandlung ihrer Mythenstoffe sich öfter zu Schulden kommen lassen, erreicht in jenen Fällen und namentlich bei den fachmäßigen, meist dem Schauspielerstande entstammten und nur oberflächlich unterrichteten »Erzählern« wohl ihr Maximum, und dies ist auch ganz erklärlich, da sie auf alle Weise den Beifall ihrer Zuhörer – von dem sie ja vollständig abhängig sind – zu erringen trachten müssen. Die oft herzlich geschmacklosen, breiten Ausschmückungen, mit denen sie den weit ansprechenderen und wirksameren Volkston fälschen, die vielen Entstellungen und irrthümlichen Vermengungen ihrer Stoffe machten es geradezu unmöglich, sie ohne strenge Kritik zu benutzen, und man wird finden, daß gerade in dieser Beziehung meine Sammlung auf einem ganz entgegengesetzten Standpunkte sich befindet, als die – oft nur zu sehr den Mangel an Stoff durch die Zuthat verdeckenden – westländischen, insbesondere amerikanischen Autoren, welche sich ausgesprochener Maßen mit solchen japanischen Erzählern identificiren möchten. Das ist dann nicht mehr japanisches Volksleben, das ist ein Versuch, allerhand japanische Notizen in einer so zu sagen salonmäßigen Form zu geben; ein Versuch, der ebensowenig vom dortigen Volke herrührt, als er unserem Volke wirklich verständlich und für dasselbe genießbar sein dürfte.

Eine ähnliche Zurückhaltung mußte bei der Benutzung der Literatur obwalten, wenigstens hinsichtlich des populäreren, mehr belletristisch gehaltenen Theiles derselben, welcher sich ja mit den Leistungen der Erzähler mehrfach berührt. So lückenhaft in solchen Werken meistens die japanischen Märchen und Sagen enthalten sind, so willkürlich pflegen dieselben mit alledem umzugehen, was sie bieten. Häufig begegnet man allerhand Irrthümern und Verdrehungen oder Lesarten, die unmöglich echt sein[15] können; und fast durchgehends kann man sagen, daß sie an einer geschraubten, unnatürlichen Darstellungsweise kranken. Am günstigsten ist es noch, wenn ein derartiger Autor den Standpunkt eines trocknen Übersetzers einnimmt, obwohl auch dabei nicht immer Fehler und Dunkelheiten des Ausdruckes gehörig vermieden werden. Weit mißlicher aber ist es, wenn der Darsteller sein Erzählertalent glänzen lassen will und demzufolge die Stoffe willkürlich modelt und mit unmotivirten Zusätzen versieht, wie dies im höchsten Grade bei dem überdies auch noch tendenziösen Griffis1 der Fall ist. Die einzigen dieser populären oder halb populären Schriftsteller, welche hie und da schätzbare Beiträge liefern, sind wohl Pfoundes (Kodomo Mukashi banashi u.a.m.) und Mitford, Verfasser der auch ins Deutsche übersetzten »Tales of old Japan«; indessen war auch hier durchgehends große Vorsicht bei der Benutzung geboten. Ungleich werthvoller waren die Vergleichsmomente und Beiträge, welche ich älteren japanischen Quellen und den wissenschaftlichen Bearbeitungen derselben verdanke. Von jenen sind außer den beiden Hauptwerken über die sogenannte alte Geschichte Japans einschließlich der »Göttergeschichte«, dem Nihongi und ganz besonders dem Kojiki, hauptsächlich die »Rollen der Göttergeschichte«, die »alten Überlieferungen« und die japanischen Commentare über alle diese Werke, zum Theil von namhaften Forschern über die Schintoo-Lehren herrührend, alsdann die »Erzählungen der Ise«, die »zehntausend Blätter« und mancherlei Volksbücher zu nennen. Diese Schriften sind größtenteils durch gründliche Kenner der japanischen Sprache übersetzt und erläutert, unter denen zuvörderst A. Pfizmaier zu nennen sein dürfte, welcher in vielen Abhandlungen der Sitzungsberichte[16] der Wiener Akademie die japanische Sagenzeit nach einheimischen Quellen behandelt, alsdann Ernest Satow, der theils in den Transaction of the Asiatic Society of Japan, theils in englischen Zeitschriften die Schintoo-Religion ausführlich bearbeitet hat, und B. Chamberlain, welcher ebenfalls in den genannten Transactions, aber auch in besonderen Werken und in englischen Zeitschriften nicht nur viele ältere japanische Dichtungen, sondern auch das obenerwähnte Kojiki2 vollständig wiedergiebt. So wenig alle diese Bearbeitungen einem größeren Leserkreise verständlich sein dürften, so unentbehrlich und von so entscheidender Bedeutung waren sie für die eigentliche Forschung, für welche nächstdem einige Abhandlungen aus den »Mittheilungen der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens« von H. von Siebold, Lange, Funk, Westphal u.A., sowie manche Notizen aus Ph. von Siebold's »Nippon, Archiv zur Beschreibung von Japan« und aus des alten Kämpfer »Geschichte Japans« von Wichtigkeit waren, welche sämmtlich sorgsam zur Vergleichung gezogen wurden.

Mit Hülfe aller dieser Quellen stellte ich auf der oben bezeichneten volksthümlichen Grundlage die vorliegende Sammlung her, welche folglich alle mythischen Erzählungen der Japaner umfaßt, soweit sie überhaupt bis jetzt bekannt geworden sein dürften. Im ersten Abschnitte giebt sie die Märchen, wie sie unter Kindern und Erwachsenen zirkuliren, und ihnen reihen sich die märchenartigen Fabeln des nur kurzen zweiten Abschnittes an. Aus diesem Theile der Sammlung wird man ersehen, daß zwar die Anzahl der Nummern nicht übermäßig groß ist, daß aber Mitford's Annahme doch ungerechtfertigt war, nach welcher nur die geringe von ihm seinen »Tales of old Japan« eingefügte Zahl von kaum zehn solcher Erzählungen überhaupt in Japan im Umlaufe sein sollte. Auf den Ursprung dieser Märchen näher einzugehen,[17] ist hier nicht der Ort, obwohl gerade in diesem Falle die Versuchung dazu nahe lag und ich nur ungern die vielfach complicirte Untersuchung und Erörterung jener Frage vor der Hand dem Leser überlasse.3

Der dritte Abschnitt umfaßt die Göttersagen, unter denen zuvörderst diejenigen Traditionen der Japaner – bis zum neunten Stücke einschließlich – folgen, welche man wohl als die eigentlich kanonischen Erzählungen des Schintoo bezeichnen könnte. Dieselben geben vielleicht die reichste Fundgrube für den vergleichenden Mythologen ab, möchten aber nicht minder für Jedermann eine anziehende Lectüre bieten. Fast unmerklich, nur durch den ganz willkürlich angesetzten Zeitpunkt der »Gründung des japanischen Reiches« durch Jimmu unterbrochen, geht die Göttersage in die Heldensage über, und diese wandelt sich ihrerseits ganz allmählig in die eigentliche Geschichtssage um, welche sich auf historisch beglaubigtes niederschlägt und endlich in einzelnen Sagen ziemlich neuen Datums ausklingt. Die beiden Abschnitte der Sammlung, welche diese Sagen umfassen, der vierte und fünfte, sind insofern ganz besonders lehrreich, als sie für jeden Unbefangenen schlagend darthun, wie weit in die späteren Jahrhunderte in Japan die Sage reicht, und zu welchen gradezu lächerlichen Consequenzen es führt, wenn man – in gedankenloser, oberflächlicher Weise den japanischen Quellen folgend[18] – die Sagenreihe, welche begreiflicher Weise in Japan selbst als Geschichte angesehen wird, im wesentlichen als solche gelten lassen oder ihr doch einen ungebührlich großen historischen Kern zuerkennen will. Es wird sich ohne Zweifel mit jedem Fortschritte der kritischen Forschung deutlicher herausstellen, daß die authentische Geschichte in ganz Ostasien einschließlich des chinesischen Reiches weit jüngeren Datums ist, als man gewöhnlich glaubt; für Japan aber steht diese Thatsache nach den Untersuchungen eines Chamberlain, Satow u.A. unbedingt schon heutzutage fest, so daß bis zum Ausgange der Regierung des Kaisers Nintoku, des Sohnes des japanischen Kriegsgottes Hatschiman oder Yabata, also etwa bis zum Jahre 400 nach Christus, von einer japanischen Geschichte überhaupt nicht die Rede sein kann. Alles, was man von nordischen und malayischen Invasionen des Inselreiches, von unbehelligter Succession der Enkel der Sonnengöttin auf dem Throne von Japan u.s.w. aus den noch älteren Überlieferungen hat folgern wollen, ist ebenso grundlos wie die Nachrichten von der Eroberung Koreas durch Jingo Kogo, von den Kriegszügen Yamatodokes; alle Heldengestalten jener Zeit, Jimmu, Yamatodake und Ojin oder Hatschiman, sind nichts als Göttergestalten oder Hypostasen von Gottheiten.4

Aber auch in den folgenden Jahrhunderten zeigt die Geschichte sehr starke Beimischungen der Sage, ganz analog den Erscheinungen, die wir bei jedem anderen Volke finden. Bei der einen Nation tritt der Zeitpunkt früher, bei der anderen später ein, wo die beglaubigten Daten die Oberhand gewinnen; bei den Japanern dürfen wir denselben keinenfalls früher ansetzen als etwa in den Ausgang des zwölften Jahrhunderts unserer[19] Zeitrechnung. Grade die zweite Phase der Heldensage, welche das Geschlecht der Minamoto, die Ahnherren der bekanntlich 1868 beseitigten weltlichen Herrscher oder Schogune Japans verherrlicht, gipfelt in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts, und hier treten uns die offenbar rein mythischen Gestalten eines Tametomo und Yoschitsune, in zweiter Linie die eines Raiko, Watanabe, Yorimasa, Kintoki entgegen und kennzeichnen die Berichte aus jenen Tagen unbedingt nur als eine Art von Analogon der pseudoturpinischen Chronik und keinenfalls als Geschichtsschreibung. Auf alle Fälle dürfte die einheitliche Zusammenstellung der sagenhaften Züge jener Berichte wesentlich dazu beitragen, ihren wahren Charakter völlig klar zu stellen.

In der dritten Gruppe von Geschichtssagen, welche dem vierzehnten Jahrhundert angehört und den Heerführer Nitta Yoschisada und die ersten Schogune aus der Dynastie der Aschikaga zum Mittelpunkte hat, tritt in Wahrheit zum ersten Male der sagenhafte Charakter hinter den chronistischen oder auch hinter den romanhaften zurück; sowohl poetisch, als mythologisch halten dieselben daher keinen Vergleich mit den älteren Sagen aus, obschon sie wegen ihres spezifisch japanischen Gepräges immer beachtenswerth bleiben. Noch ärmer an sagenhaften Zügen werden dann die Überlieferungen aus dem sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert, doch sind sie nicht nur aus dem nämlichen Grunde von Interesse, sondern sie erläutern auch das allmälige Verlöschen des Sagencharakters in viel zu anschaulicher Weise, als daß ihnen nicht eine Stelle in vorliegender Sammlung gebührt hätte.

Eine besondere Abtheilung, die sechste, machen die Legenden aus, die bei ihrem vorwiegend buddhistischen Ursprunge namentlich die Behandlungsweise charakterisiren, welche die Japaner den ihnen durch diese Religion zugeführten mythischen Stoffen haben angedeihen lassen.

Den werthvollsten Stücken der Sammlung möchten einige der Lokalsagen zuzurechnen sein, sowohl solche, die – wie Kiohime,[20] Tawaratoda, das Federkleid, die Schlangen der Benten – buddhistisch oder doch stark buddhistisch beeinflußt sind, als auch solche, wie namentlich das Mädchen von Unnai, welche entschieden dem Schintoo angehören oder, wie Luwen, den chinesischen Ursprung an der Stirn tragen. Wenn auch die Zahl der Lokalsagen nicht so groß ausgefallen ist, als wohl hie und da vermuthet worden, so ist sie doch immerhin beträchtlich genug, um auch diesem Abschnitte eine gewiße Bedeutung zu sichern.

Am zahlreichsten sind die Gespenstersagen und die ihnen verwandten Erzählungen, welche mehr als lange Abhandlungen die Denkart des japanischen Volkes – von ehedem und von heute – und die Unhaltbarkeit vieler über dasselbe verbreiteter Angaben darthun, und von denen die Mehrzahl jedenfalls einen ganz primitiven, unverfälscht japanischen Charakter trägt.

Was die Art der Wiedergabe aller dieser Sagen und Märchen betrifft, so war ich – wie im Grunde schon aus der Widmung dieses Buches an die Manen unserer nicht genug zu preisenden Brüder Grimm hervorgeht – vor allem bestrebt, die strengste Objektivität zu wahren. Aufs gewissenhafteste bemühete ich mich, mit aller diesem Gegenstände so sehr wie irgend einem anderen schuldigen Pietät den Inhalt bis auf jedes einzelne Wort unverfälscht und echt zu halten. Es wurden daher nicht nur alle Zusätze meinerseits vermieden, sondern auch spätere Einschiebsel, die als solche erkennbar waren, sorgsam ausgemerzt. Dagegen wurde nirgends etwas wesentliches weggelassen, und es kam dabei selbstverständlicher Weise nicht in Betracht, ob irgend ein Gegenstand oder eine Wendung etwa minder anziehend oder in ästhetischer Hinsicht minder werthvoll war. Die von manchen Seiten gehegte Befürchtung, daß bei der Leichtlebigkeit der Japaner Momente in die Erzählungen einzuflechten seien, welche leicht unseren Lesern anstößig werden könnten, fand ich bei sorgfältiger Durcharbeitung des Gegenstandes im allgemeinen nicht bestätigt. Die japanische[21] Sage verhält sich in dieser Beziehung genau so wie die der europäischen Nationen, und nach Weglassung von drei kurzen, episodischen und ganz unerheblichen Stellen ließ sich der ganze Inhalt derselben ohne irgend welches Bedenken Jedermann, Kindern und Erwachsenen, vorlegen5.

Die große Zahl von Varianten, welche sich bei vielen der japanischen Märchen und Sagen vorfinden, machte ganz besondere Sorgfalt in der Auswahl der besten Lesart nothwendig. Es ist jedoch hier unbedingt nicht der Platz, die Gründe, welche in den einzelnen Fällen für die getroffene Wahl maßgebend waren, auseinander zusetzen, und begnüge ich mich, auch in dieser Beziehung auf die später erscheinende Schrift über die japanische Mythologie zu verweisen. Nur auf einen Umstand möchte ich aufmerksam machen, daß in vielen Fällen einer – wie es scheint namentlich in letzter Zeit – in Japan eingerissenen Unsitte zu steuern war, in Folge deren gewisse sagenhafte Züge willkürlich aus einer Sage in die andere übertragen werden. Auch in dieser Beziehung möchte solchen »Erzählern«, die durch geistreiche Combinationen glänzen wollen, ein großer Theil der Schuld zufallen. Die Sache selbst ist um so bedauernswerther, als dieses willkürliche Verfahren, das man kaum umhin kann, eine wirkliche Fälschung des ursprünglichen Charakters der Sagen zu nennen, bereits in die ausländische Literatur übergegangen und auch auf die bildlichen und plastischen Darstellungen mythischer Scenen in Japan selbst nicht ohne Einfluß geblieben ist. Es mußte[22] deshalb mit Entschiedenheit dagegen vorgegangen und alles, was in dieser Beziehung gesündigt ist – wie z.B. die Einschwärzung des ungeheuerlich aussehenden Wegegottes, welcher dem Ninigi begegnet, in die Sage von Jimmu, oder wie die des Kranichs von Konodai in die Sage von Yamatodake und wie die der Ebbe- und Fluthsteine des Hohodemi in die Erzählung der Eroberung Koreas durch Jingo Kogo –, wurde von vornherein durchaus beseitigt.

Hinsichtlich des Stiles mußte allerdings auf die Grundverschiedenheit der Sprachen Rücksicht genommen und besonders alles das klargelegt werden, was die Japaner wirklich haben ausdrücken wollen; denn nur so konnte die Erzählung mit dem richtigen Sinne des Originals übereinstimmen. Daß aber dabei jede unnöthige Umschreibung vermieden wurde, ist bei der eingeschlagenen Methode selbstverständlich; die Uebersetzung schließt sich dem Gange der japanischen Erzählungen stets aufs gewissenhafteste an und würde, wenn zurückübersetzt, unbedingt Niemand in Japan anders als echt japanisch erscheinen.

Noch eine Eigenthümlichkeit, die vielleicht Manchem schon auf den ersten Blick auffällt und jedenfalls die vorliegende Sammlung von vielen anderen Büchern über und aus Japan unterscheidet, möchte ich nicht unerwähnt lassen, nämlich die Sparsamkeit, die ich mir hinsichtlich der Verwendung japanischer Namen zur Regel gemacht habe. In der That bin ich der Meinung, daß das ewige Wiederholen der zwei, drei Namen, welche ein und derselbe Gott oder Held führt, oder die lange Namenreihe, die sich um den eigentlichen Hauptnamen herumkrystallisirt hat, den nichtjapanischen Leser nur verwirren und abschrecken kann; daher habe ich, soviel es irgend anging, die Namen vereinfacht und verdeutscht. Wie z.B. der japanische Name des Frühlings- und Herbstgottes lautet, ist jedem Nichtkenner der japanischen Sprache unbedingt gleichgültig; ebenso, wie etwa bei seinen Lebzeiten[23] der erste Kaiser Jimmu geheißen. Auch ist für unsere Leser gewiß so leicht nichts ermüdender als die stete Wiederholung der Endsilben – no mikoto bei den alten Kaisern, oder des Vorsatzes Minamotono – bei allen Abkömmlingen der Minamotofamilie, und wurden daher alle derartigen luxuriösen Namendetails abweichend von dem Usus manches anderen Schriftstellers beseitigt. Konnte ich nicht durch eine einfache Übersetzung den Sinn ganz korrekt wiedergeben und dabei doch wiederum den Charakter eines Eigennamens wahren, so ließ ich die japanischen Namen lieber unerörtert stehen und verweise in dieser Hinsicht abermals auf die späteren Erläuterungen.

Da, wo für Kunstprodukte oder Thiere und Pflanzen keine direkte Übersetzung thunlich war, wie z.B. bei Koto, bei dem Kaki und dem Tanuki, für welche wir in Europa keinen volksthümlichen Ausdruck haben, weil wir sie eben nicht kennen, habe ich stets eine Erklärung, sei es im Texte, sei es durch Anmerkungen gegeben und denke, daß man in dieser Beziehung keine Lücken finden wird.

Somit hoffe ich denn, eine allgemein verständliche Übertragung eines Materiales in unsere Sprache geliefert zu haben, welches in seiner schlichten Volkstümlichkeit und in seiner Echtheit kaum verfehlen kann, sich Freunde zu erwerben und namentlich auch unsere Jugend anzusprechen. Und wenn das Buch auch den Deutschen in eine fremdartige Welt einzuführen unternimmt, so wird es doch, wie ich hoffe, denselben befähigen, mehr und mehr in die innerste Gefühls- und Denkweise jenes fernen Volkes einzudringen, dem sein Inhalt entstammt.

Daß dieser Versuch unserem Volke zu bleibendem Nutzen und Genusse gereichen möge, ist mein aufrichtigster Wunsch.


Halle, im Juni 1884.


David Brauns.

1

Verfasser von »the Mikado's empire« und »Japanese fairyworld«. – In ähnlicher Weise tendenziös, doch zur Vergleichung weit besser zu verwerthen sind F.A. Junker v. Langegg's »segenbringende Reisähren«.

2

Bd. X, Appendix, der Transaction of the Asiatic Society of Japan, 1883.

3

Unter diesen Märchen haben drei (Mosoo, Kwakkiyo und Oschoo) Platz gefunden, die zwar, wie ausdrücklich gesagt wird, chinesischen Ursprungs, aber in Japan heimisch geworden sind; ähnlich die Lokalsage von Luwen und ein Theil der Mythen der sieben Glücksgötter. Geschichten evident westländischen Ursprungs, wie die neuen Uebertragungen des Däumlingmärchens u. dergl. m., blieben weg; die einzige Ausnahme machte in dieser Beziehung »Die Warze und die Kobolde«, die zwar einem irischen Märchen sehr ähnlich, aber doch eigenthümlich japanisch gefärbt ist und, wenn importirt, jedenfalls schon früher in Japan heimisch war. Die Aufnahme der – ursprünglich indischen – Fabel von den Ratten rechtfertigt sich unbedingt schon durch die mit ihr in Japan vorgenommenen Aenderungen.

4

Es ließe sich unschwer an der Hand der einzelnen Sagen und sagenhaften Züge nachweisen, welche Naturkräfte (Gottheiten) durch die Heroen repräsentirt werden – durch Jimmu der Donnergott, durch Yamatodake die Sonne u.a.m.

5

Diese drei bedenklichen Stellen sind erstens ein Einschiebsel der Sage von Isanagi und Isanami, das durch Kämpfer und Wieland in unsere Literatur eingeführt, aber nur Variante ist und kaum die ihm gezollte Beachtung verdient; zweitens die Erzählung von der Herkunft der Gattin Jimmu's, auf welche hernach nie wieder zurückgekommen wird, die daher nur eine – noch dazu unbedeutende – Episode ist; drittens ein Passus in der Geschichte der Werbung Yamatodake's um Miazu, ebenfalls ohne Belang.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885.
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