Über Hexen und Zauberinnen.

[31] Zur Ergänzung der hier angeführten Hauptthemen der armenischen Märchen muss ich noch einiges über die Hexen sagen.

In den armenischen Märchen treten Hexen und Zauberinnen auf, die sich wie die russischen »Baba-Jaga« durch einen zweifachen Charakter auszeichnen. Bald sind sie gut und bereit, mit Hilfe der übernatürlichen Kräfte, die ihnen zu Gebote stehen (Zauberkamm, Zaubertuch, Rasiermesser, Spiegel, Krug u.s.w.) Hilfe zu erzeigen. Bald sind sie wieder böse, dem Menschen[31] feindlich gesinnt und nähren sich sogar von Menschenfleisch.16

Der Sage nach giebt es Hexen, die gewöhnlich in den Ruinen alter Mühlen und Türme wohnen. Mit dem Erscheinen des Mondes verlassen sie ihre geheimnisvollen Wohnungen mit ungeheuren Schlangen in den Händen und erinnern somit an die Erynien des griechischen Epos. Solche Hexen nennen die Armenier »Mütter der Nacht«. Sie sind grosse Feindinnen der Sonne, der sie beständig nachjagen, sie aber nie einholen. Nur gegen Abend kommen die Hexen der Sonne nahe, aber im Augenblicke, da sie sie erhaschen wollen, verschwindet sie. Da schütteln sie die zischenden Schlangen ab und schicken sie der Sonne nach durch alle Städte, Dörfer und Weiler, wobei sie überall schreckliche Dunkelheit zurücklassen. Doch wenn sie bemerken, dass ihr Suchen vergeblich ist, dass die Sonne nicht mehr auf der Erde ist, steigen sie in die Unterwelt hinunter. Sobald sie hinunter gestiegen sind, tagt es im Osten. Dieser Kampf zwischen der[32] Sonne und ihren wütenden Feinden, zwischen dem Lieht und dem Dunkel, wird nach der Meinung des Volkes seit Adams Zeiten jeden Tag geführt, aber bis jetzt ist es den Hexen noch nicht gelungen, die Sonne zu fangen.

Es ist vorauszusetzen, dass die Feindschaft der armenischen Hexen gegen die Himmelslichter und deren beständige Verfolgung ihrerseits eine sehr alte Eigenschaft derselben ist. Sie bestimmt genauer den Charakter der Hexen als Personifizierung des Dunkels – der Nacht, woraus natürlicher Weise der Begriff vom Bösen, Feindschaftlichen als ihre Folge entspringt.

Es giebt auch andere interessante Sagen von der Sonne, in welchen diese der Verfolgung der ihr feindseligen Drachen ausgesetzt ist.

Es wird erzählt, dass wenn die Sonne am Tage das ganze Weltall durchwandert hat, in der Nacht ins Meer sinkt, um sich zu baden und von ihren Tageswanderungen auf ihrem auf dem Meeresgrunde befindlichen Lager auszuruhen. Die Sonne selbst soll der König sein, der Mond die Königin und beidere gieren der Reihe nach das Weltall. Wenn die Sonne ausruht, kommt der Mond heraus und bedeckt sich manchmal aus Scham mit einem dichten Schleier. Zahlreiche Dienerinnen umgeben ihn.[33] – Vor der Morgendämmerung kommen aus den Bergen zwölf Mohren; in den Händen haben sie jeder einen glänzenden Stab, mit dem sie an die hohen Berge schlagen. Die Berge neigen ihre Gipfel hernieder und werden mit dem Erdboden gleich. Um diese Zeit ist die Sonne schon erwacht und wäscht sich; der Wasserstaub besprengt Felder und Wälder; von der duftenden Frische der Luft erwachen die Vögel und zwitschern fröhlich. Da erscheint das prächtige goldene Haupt der Sonne: ihre Haare brennen von Feuer; die Engel decken ihr Bett zu und legen ihr feurige Kleider an. Unterdessen lauert der Sonne eine ganze Schar von Drachen auf, um ihr den Weg zu versperren und das Weltall ihres heilbringenden Lichtes zu berauben. Doch die himmlischen Engel stürzen sich auf sie mit feurigen Schwertern und zerstreuen sie in einem Augenblicke.

Eine ähnliche Mythe finden wir, wie schon oben bemerkt worden, bei vielen Völkern. Auch bei den Slaven und Littauern wurde die Sonne als Göttin aufgefasst. Ihr Schloss war im Osten; sie fuhr am Himmelsgewölbe in einem goldenen Wagen hin und von der Tagesreise ermüdet, von Erdenstaub bedeckt, badete sie sich abends im Meere und erschien am Morgen wieder hell und glänzend. Der griechischen[34] Sage nach stieg Helios nach seiner Tagesreise mit seinen ermüdeten Rossen gen Westen nieder, wo die Rosse in den Wellen des Ozeans ausruhten. Auch die altdeutsche Sage erzählt, dass Odin am Morgen die Sonne zum Himmel hinaufführt und in der Nacht mit ihr zusammen ins Meer untertaucht.

Nicht minder interessant ist ein anderes armenisches Märchen vom »Königssohne, der die Sonne töten wollte«. Es war ein Königssohn, ein leidenschaftlicher Jäger. Mehrere Tage nach einander ging er auf die Jagd und konnte nichts erlegen. Vor Verzweiflung und Ärger über das Misslingen seiner Jagd zielte er auf die Sonne, in der Absicht, sie tot zu schiessen und die ganze Welt zu Grunde zu richten, in der es für ihn nichts Teueres mehr gab, da er auf der Jagd kein Vergnügen fand. Kaum hatte er seinen Pfeil abgeschossen, als ihn die Sonne mit ihrer Feuerhand auf die Wange schlug, an den Haaren packte und in eine öde Gegend in eine Höhle trug. Hier verwünschte sie den Königssohn, er durfte das Tageslicht nicht sehen und nur des Nachts seine Höhle verlassen, um sich Nahrung zu suchen. Jeglicher Versuch, dawider zu handeln, sollte mit dem Tode des armen Jünglings enden. Nach langem Suchen gelang es der[35] Mutter des Prinzen, ihren Sohn zu finden. Auf seinen Rat unternimmt sie die weite Reise zur Sonnenmutter und bittet um Vergebung für ihren Sohn. Dabei findet sie ihn natürlich nicht eher, als bis sie ihre eisernen Schuhe abgetragen und einen eisernen Stab zerbrochen hat. Endlich fand sie das schöne, aus blauem Marmor erbaute Schloss und trat hinein. Sie durchschritt zwölf Galerieen, die alle gewölbt waren; in ihnen schlief eine unzählbare Menge Sterne. In der Mitte jeder Galerie steht ein Bassin mit einer Fontäne. Weder Bäume, Gräser, Vögel, noch Tiere sind zu sehen. Rings umher herrscht tiefes Schweigen. Über dem Bassin der mittleren Galerie ist eine goldene Halle errichtet und hier steht ein Perlenbett. Von der einen Seite mit hellem Lichte beschienen, sitzt die strahlende Königin – die Sonnenmutter. Nachdem die Königin die Bitte der unglücklichen Frau angehört und den Sohn für seine thörichte That ausgescholten hatte, erbarmte sie sich der armen Mutter und riet ihr, wie ihrem Kummer abzuhelfen sei. »Bald wird mein königlicher Sohn (die Sonne) kommen,« sagte sie, »du verberge dich hinter die Sterne, damit du dich nicht verbrennst Wenn er sich im Bassin gebadet haben und sich zu mir ins[36] Bett legen wird, um an meiner Brust zu saugen, schöpfe du Wasser aus diesem Bassin und wasche deinen Sohn damit; er wird sich dadurch von der Verwünschung befreien und zu dir nach Hause zurückkehren.«

Gr. Ch.

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Eine solche ist auch unter anderen die »Rokapi« der georgischen und mingrelischen Märchen – ein altes Weib von dämonischem Charakter. Im gewöhnlichen Leben werden zahnlose, magere, bösartige alte Weiber so genannt. – Mingrelische Studien. I.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887.
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