Der arme und der reiche Bruder.

[230] Wo es war und wo es nicht war, in alten Zeiten da waren zwei Brüder. Der eine war sehr reich, der andere hingegen sehr arm. Da dieser arme Bruder verheiratet, der reiche aber ledig war, so sprach der arme eines Tages zu seinem reichen älteren Bruder: »Bruder, heute haben wir nichts zu essen, gib mir doch ein-zwei Para, damit ich meine heutige Arbeit verrichten kann.« Allein der Bruder jagte ihn mit folgenden Worten von sich: »Scher' dich zum Teufel von hier! warum kannst du dir, als Erwachsener, dein Brot nicht verdienen; arbeite, so wirst du verdienen, fort von hier! einem solchen Menschen gebe ich keinen Para.«

Der unglückliche Mann ging fort, um sich nach irgend einem Verdienst umzuschauen und seinem Elend abzuhelfen. Als er so ging und ging, kam er zu einem Baum und da er vor Hunger und Müdigkeit ganz ermattet war und ausruhen wollte, setzte er sich unter den Baum nieder. Wie er dort über seine Lage nachdachte, bemerkte er, wie aus der Ferne vierzig Dews unter Aufwirblung eines grossen Staubes heranzogen und sich ihm näherten. Als er dies bemerkte, versteckte er sich in einen hohlen Baumstamm und guckte durch ein Loch, um zu sehen, wohin sie wohl ziehen werden.

Die Dews gingen auf einen Stein zu, der in der Nähe des[231] Baumes war. Sie sagten zu ihm: »tschanga« und der Stein öffnete sich. Sie schlüpften durch die Öffnung und sprachen: »tschunga«, worauf der Stein sich wieder schloss. Da das arme Männchen in der hohlen Baumrinde dies erlauschte, so legte er sich in jener Nacht dort nieder und wartete, bis die Dews in der Früh von dort wieder herauskamen. Gegen Morgen öffnete sich der Stein und die Dews kamen heraus, dann sprachen sie »tschunga«, der Stein schloss sich und sie entfernten sich.

Als das Männlein sah, dass die Dews schon weggegangen, kroch er aus dem hohlen Baumstamme heraus, ging hin zum Stein und sagte zu sich selber: »ob sich der Stein wohl öffnen würde, wenn ich so zu ihm sprechen würde«? Er erwog die Sache und indem er dann sprach: »Ei was, mag geschehen, was da wolle, ich werde das Wort aussprechen; bin ich ja ohnehin schon halb und halb ein toter Mann« rief er »tschanga« und siehe da, es öffnete sich der Stein. Sofort sprang er hinein und »tschunga« schloss sich der Stein über ihm. Nun sah er sich in einer Höhle.

Er trat in eines der Zimmer ein und sah dort einen Tisch und auf dem Tische vierzig Schlüssel. Er nahm die Schlüssel, begann damit die Zimmer aufzuschliessen und wie er das erste Zimmer aufsperrte, sah er, dass es voll mit Gold war; er öffnete dann das zweite, es war voll Silber; er öffnete das dritte, siehe, es war voll Rubinen; er öffnete das vierte, es war voll Smaragden; er sperrte auch das fünfte auf, das war wieder voll mit Schmuckgegenständen, kurz: in einem jeden der Zimmer sah er andere Kostbarkeiten. Endlich öffnete er das vierzigste Zimmer, da sieht er, dass dort viele Mädchenleichen in einem Haufen übereinander lagen. Sofort schloss er jenes Zimmer wieder zu, nahm aus jedem der andern Zimmer ein Stück zu sich, füllte damit seine Taschen und seine Brust und nachdem er sämtliche Zimmer wieder[232] geschlossen hatte, legte er die Schlüssel wieder auf den Tisch, ging hin zum Stein, sagte »tschanga«, ging hinaus, dann »tschunga«, worauf der Stein sich wieder schloss. Er aber eilte voll Freude nach Hause.

So wurde der Mann plötzlich sehr reich. Als dies sein älterer Bruder erfuhr, besuchte er ihn und fragte, wie er denn so reich geworden. Der Bruder erzählte ihm alles und jener fragte ihn: »Wird es auch dann so sein, wenn ich hingehe?« worauf ihm der Bruder sagte: »Auch du kannst dort Reichtümer erwerben, nur darfst du die Worte tschanga und tschunga nicht vergessen.« Damit machte sich auch der andere auf den Weg und ging zum Stein hin Er sprach tschanga, der Stein öffnete sich, dann tschunga, der Stein schloss sich wieder. Nachdem er die Schlüssel gefunden, nahm er aus jedem Zimmer je ein Stück, füllte damit seinen Sack, ging zum Stein zurück, allein das Wort tschanga fiel ihm durchaus nicht mehr ein; er sagte tschunga, worauf sich der Stein mit grossem Gekrach noch mehr zusammen zog. Er strengte sich sehr an, dachte hin und her, das Wort konnte ihm nicht mehr in den Sinn kommen.

Da er nicht wusste, wass er nun beginnen solle und die Zeit herannahte, in der die Dews nach Hause kommen sollten, so überfiel ihn ein solcher Schreck, dass er fast neun gebar. Dann raffte er sich zusammen, leerte den Sack aus und suchte sich einen Platz, wo er sich verstecken könnte. »Morgen,« dachte er sich, »wenn ich von den Dews das vergessene Wort wieder gehört haben werde, raffe ich wieder die Schätze zusammen.« Damit legte er die Kostbarkeiten aus dem Sack wieder auf ihren Platz zurück, schaute, nach einem Versteck suchend, hin und her und erblickte einen Ofen. Das wird ein guter Platz sein, dachte er sich und kroch sofort auf die Ofendecke hinauf.

Doch ziehen wir die Sache nicht in die Länge. Die Dews[233] kamen nach Hause; tschanga, huschten sie zum Stein hinein; tschunga, schloss sich der Stein. Als der Mann auf dem Ofen das Wort tschanga hört, merkte er es sich sehr gut, und als er das Wort, um es nicht zu vergessen, wiederholte, schrie der jüngste der Dews auf: »He, ich spüre Menschengeruch!« Die an deren sagten ihm: »Das Geruch der Wiesen und Wälder, durch welche wir gegangen, haftet an uns« Allein der Dew behauptet immerfort: »Ich spüre Menschengeruch.« Da sprachen die andern wieder: »Mein Lieber, hieher kann nicht einmal ein Vogel fliegen, wie sollte gar ein Mensch hereinkommen können?« Der junge Dew jedoch behauptete ohne Unterlass steif und fest, dass hier in der Nähe unbedingt ein menschliches Wesen sein müsse und begann auch sofort mit einigen Kameraden nach demselben zu suchen und wie sie auf die Ofendecke blickten, da sahen sie, dass dort auch wirklich ein menschliches Wesen war. »Seht Ihr,« sprach der junge Dew, »habe ich nicht gesagt, dass ich Menschen rieche?«

Damit holten sie den Mann herunter und fragten ihn, wie er hiehergekommen. Der Mann erzählte am ganzen Leibe zitternd die Sache. Die Dews sprachen: »Dein Bruder war ein armer Mann, und da du ihn wegjagtest, so wurde dies sein Kismet. Dein Kismet aber ist dies ...,« damit packten sie ihn, zerstrückelten seinen Körper in vierzig Bissen und verzehrten ihn.

Quelle:
Kúnos, Ignaz: Türkische Volksmärchen aus Stambul. Leiden: E.J.Brill, (1905), S. 230-234.
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