II. Wettstreit der Monate.1

[300] 1.


Die Monate des Jahres hatten sich versammelt

und sprachen von ihren Vorzügen,

unterhielten sich mit einander,

suchten das Liebenswerte an ihnen (?) darzulegen.
[300]

2.


April kam herein und trat vor

und sprach folgende Worte,

er zeigte, dass das Jahr sich nicht freue

über alle [übrigen] Monate, seine Gefährten:


3.


»Neue Dinge vollziehen sich in mir,

in mir bringen sie frohe Verheissung,

auch schmücken sich die Berge

und glänzen wie Leuchten.


4.


Die Sonnenkreise dehnen sich in mir aus,

die Stunden des Tages werden länger;

es hecken (alle) die Schwalben

und lassen liebliche Laute lang ertönen.«


5.


April trat ab und Mai trat vor

und sprach folgende Worte:

»Geh weg, April!« und trieb ihn weg.

Dieser gehorchte ihm und ging weg:


6.


»In mir trägt [der Boden] liebliche Blumen,

die angenehme Düfte verbreiten;

in mir trägt man2 gewundene Kränze;

auch Lilien treten zu Tage.


7.


Die Ähren auf den Gefilden schiessen in die Höhe,

dehnen sich aus, werden voll und hoch,

erreichen mit ihren Köpfen die Ähren (sic!),

und wachsen auf den Befehl ihres Schöpfers.«
[301]

8.


Mai trat ab und Juni trat vor

und sprach zu ihm die Worte:

»Geh weg, Mai!3« und trieb ihn weg,

»deine Rede ist zu Ende, fertig.


9.


Wenn alle Welt sich erhebt

und an diesem Tage auf's Feld zieht,

lobt sie voller Freude den Himmel,

dass er Frieden und Wohlfahrt der Erde geschenkt.


10.


Es blitzt der Glanz ihrer Sensen,

wie Schwerter sind ihre Sensen;

es freuen sich meiner ihre Witwen,

Nahrung haben in mir ihre Waisen.


11.


Die mächtigen Schober, die sie aufrichten,

und alle Tennen werden voll.

Die Armen erhalten ihre Nahrung

und erheben Lobpreisung zu Gott.«


12.


Juni entfernte sich und Juli trat ein

und sprach folgende Worte:

»Geh, Juni!« und nannte ihn einen Geringen.

»Beuge und bücke dich vor mir«, sagte er zu ihm.


13.


»In mir werden die Reben reif

und gewähren einen süssen Geschmack.

Die Trauben und die Quitten ergötzen

einen jeden Mund, der sie kostet.«
[302]

14.


Juli ging weg, August und September traten ein.

Die beiden Monate waren einig mit einander,

sie trugen ein Kreuz auf ihren Schultern

und priesen den Schöpfer des Jahres.


15.


Oktober und sein Genosse4 traten vor,

sie zeigten Öl, das in ihnen gepresst wurde

und auch sie sättigten die Bedürftigen.

Sie schimpften auf Dezember und Januar.


16.


Doch als sie so zu ihnen redeten,

sie unfruchtbare Monate nannten,

sie gar sehr verachteten

und ihnen zuriefen: »Was habt ihr euch?«


17.


Da erwiderten ihnen jene,

dass die Geburt unseres Herrn in ihnen stattgefunden,

und er im zweiten von ihnen die Taufe empfangen

und durch seine Geburt mit Freude erfüllt habe

alle Geschöpfe bis zu den äussersten Grenzen,

so dass sie sämtlich mit ihrer Stimme laut ertönen lassen

Lobpreisung ihrem Schöpfer.


Amen! Amen!

1

Im Texte: »Wieder etwas anderes über die Monate des Jahres«. Solche Wettstreite scheinen, wie auch die folgenden Stücke zeigen, bei den Nestorianern sehr beliebt zu sein. Auch in der arabischen Litteratur sind sie reichlich vertreten, in der besonders das Thema »Feder und Schwert« beliebt ist. Speziell zum Streite der Monate vgl. BASILE, Pentamerone II p. 161.

2

B: »Von ihnen trägt man«.

3

Im Texte stellt fälschlich »Juni«.

4

Im Syrischen haben Oktober und November einen Namen, zu dem I und II zugesetzt werden.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 300-303.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon