24. Der Aligator und der Schakal.
24. Der Aligator und der Schakal

[352] Ein hungriger Schakal lief einst an ein Flußufer, um sich daselbst kleine Krebse, Fische oder anderweitige Nahrung zu suchen. Nun lebte gerade in eben diesem Flusse ein großer, feister Aligator, der war sehr hungrig und würde ganz besonders gern den Schakal verschlungen haben.

Der Schakal lief auf und nieder, hierhin und dorthin, konnte aber anfangs nichts zu fressen finden. Schließlich bemerkte er, nicht weit von der Stelle auf der unter hochaufgeschossenen Binsenhalmen versteckt der Aligator im klaren, seichten Wasser ruhte, einen kleinen, sich schnell bewegenden Krebs. Der Schakal war so hungrig, daß er jeglicher Vorsicht vergaß und seine Pfote schnell ins Wasser steckte, um den Krebs zu fangen. Der Aligator aber schnappte flink zu und hielt ihn fest: »O Himmel«, dachte der Schakal in seinem Sinn: »was soll ich nun anfangen? Meine Pfote ist in den Rachen des großen, feisten Aligators[353] gerathen und einen Augenblick später so hat er mich schon unter das Wasser gezogen und erwürgt. Ich kann mich nur retten, wenn ich ihm weis mache, daß er sich versehen habe.« Deßhalb rief er mit heiterer Stimme: »O, welch ein kluger Aligator bist Du! Du hältst eine Binsenwurzel fest und meinst, es sei meine Pfote. Hoffentlich findest Du sie zart und schmackhaft!« Der Aligator, der so tief zwischen den Binsen versteckt lag, dachte, als er das hörte: »Mein Gott, wie langweilig! Ich bildete mir ein, ich hätte die Schakalpfote im Rachen, statt dessen aber steht der da oben ganz wohlgemuth. Ich muß mich allerdings wohl geirrt und nur, wie er behauptet, nach einer Binsenwurzel geschnappt haben«, und damit ließ er seine Beute fahren. Der Schakal lief eilends von dannen und schrie: »O weiser Aligator, weiser Aligator, warum hast Du mich los gelassen?« Darüber ärgerte sich der Aligator. Der Schakal aber war bereits zu weit fortgerannt, so daß er ihn nicht mehr einzuholen vermochte. Am folgenden Tage kam der Schakal wieder an den Fluß, um sich wie am vorhergehenden sein Fressen zu suchen, da er sich aber vor dem Aligator fürchtete, rief er: »So oft ich mir meine Mahlzeit suche, gucken die kleinen Krabben neugierig aus dem Schlamm.« Der Aligator, der im Schlamme vergraben auf dem Grunde des Flusses lag, hörte jedes Wort. Deßhalb steckte er ein kleines Bischen von seiner Schnauze aus dem Wasser, und dachte: »Der Schakal wird meine Nasenspitze sicher für einen kleinen Krebs halten, seine Pfote ausstrecken, um das vermeintliche Thier zu fangen, und sobald er das thut, verschlinge ich ihn.«

Aber kaum erkannte der Schakal die Nasenspitze des Aligators, so rief er auch: »Aha mein Freund, bist Du da? Dann allerdings findet sich für mich hier kein Mittagsessen.« Mit diesen Worten lief er auf und davon und suchte sich seine Nahrung eine Zeitlang[354] an einer anderen Stelle. Der Aligator war zornig, daß ihm seine Beute zum zweiten Mal entgangen war und nahm sich vor, ihn nicht wieder frei zu lassen. –

Als nun der kleine Quälgeist einstmals wieder am Ufer erschien, versteckte sich der Aligator in seiner Nähe unter dem Wasser, damit er seiner womöglich, habhaft werde. Der Schakal aber scheute sich nahe an den Fluß zu gehen, denn er dachte: »Wer weiß ob es dem Aligator nicht gelingt, mich heute zu fangen.« Allein hungrig wollte er doch ungern heimkehren, deßhalb rief er, um seiner Sache sicher zu sein: »Wo sind denn all' die kleinen Krebse geblieben? Ich sehe nicht einen einzigen und bin doch so hungrig und meistens, selbst wenn sie sich unterhalb des Wassers befinden, so erkenne ich doch, wo sie sind, an den Blasen, die aufsteigen und zerplatzen! Und das klingt dann: Buller, buller, buller.« Der Aligator hörte alle die Worte. Er lag im Flusse vom Schlamm bedeckt und dachte: »Ich will thun, als sei ich ein kleiner Krebs.« Und dann fing er an zu schnaufen »puh, puh, puh, buller, buller, buller.« Und große runde Blasen stiegen bis zur Oberfläche des Wassers und zerplatzten dort, und die Wogen wirbelten ringsum, gleichwie in einem Strudel. Und als das ungeheure Thier in solcher Art zu schnaufen begann, gerieth das Wasser in solche heftige Bewegung, daß der Schakal sofort wußte, wo es sich befand und eiligst die Flucht ergriff. Doch rief er ihm noch zu: »Hab Dank, hab Dank, hab Dank. Ich würde mich wirklich nicht hierher gewagt haben, hätte ich gewußt, daß Du ganz in der Nähe wärest.«

Diese Worte versetzten den Aligator in eine außerordentliche Wuth. Er konnte nicht ohne Ingrimm an die mannigfachen Betrügereien des kleinen Schakals denken und schwur in seinem Sinne: »Er soll mich zum letzten Mal angeführt haben. Von[355] nun an will ich es listiger anfangen.« Doch wartete er lange vergebens auf des Schakals Rückkehr, der nicht wieder an das Flußufer kam. Dachte er doch bei sich: »Wenn das so zu geht, so werde ich doch eines Tages von diesem alten boshaften Aligator gefangen werden. Ich thue besser, mich mit wilden Feigen zu begnügen.« Und nun ging er nicht mehr in die Nähe des Flusses, sondern blieb im Dschungel und aß wilde Feigen und Wurzeln, die er sich mit seinen Pfoten ausgrub.

Als der Aligator das merkte, beschloß er den Versuch zu machen, den Schakal außerhalb des Wassers zu fangen, und deßhalb kroch er unter den großen wilden Feigenbaum, unter dem eine Menge herabgefallene Früchte lagen. Die sammelte er zum Theil zusammen, versteckte sich unter dem dadurch entstandenen Haufen und wartete auf das Erscheinen des Schakals. Kaum sah der Schakal diesen großen, aufgethürmten Feigenhaufen, so dachte er: »Sollte das nicht mein Freund, der Aligator, gethan haben?« Um die Wahrheit zu entdecken rief er aus: »Die kleinen, saftigen, wilden Feigen, die ich so gern esse, fallen immer vom Baum und rollen vom Winde getrieben hierhin und dorthin. Doch dieser große Feigenhaufen bewegt sich nicht im Geringsten, das ist ein Zeichen von schlechten Feigen. Die will ich lieber nicht anrühren.« »Hoho«, dachte der Aligator, »steht die Sache so? Wie argwöhnisch dieser Schakal ist! Ich will mich ein wenig bewegen, damit die Feigen zu rollen anfangen. Dann wird er wahrscheinlich kommen, um welche von ihnen zu fressen.«

Nun schüttelte sich das große Thier und all' die kleinen Feigen rollten hinunter, und einige rollten eine Meile weit hierhin und andere eine Meile weit dorthin, – viel weiter wie sie es sonst wohl thaten, oder wie sie ein ungestümer Wind zu treiben pflegte.[356]

Als das der Schakal sah, machte er sich aus dem Staube, und rief im Fortlaufen: »Ich bin Dir sehr verbunden, Aligator. Weiß ich doch nun, wo Du steckst. Hab Dank, daß Du mir Deinen Versteck unter den Feigen selbst zeigtest.« Als der Aligator diese Worte vernahm, lief er dem Schakal zornig eine Strecke nach; doch das kleine behende Thier lief ihm allzu rasch. Es war zu flink. Er konnte es nicht fangen. Da sprach der Aligator bei sich: »Dieser kleine Wicht soll nicht noch einmal seinen Spaß mit mir treiben! Ich will ihm zeigen, daß ich listiger bin, als er es sich einbildet.« Und früh am anderen Morgen kroch das große Thier, so schnell es konnte, in des Schakals Höhle, – die bestand aus einer Vertiefung am Abhange des Hügels. Es klemmte sich hinein und wartete da drinnen, ungesehen, auf die Rückkehr des Schakals, der gerade abwesend war. Als der Schakal in die Nähe seiner Wohnung kam, sah er sich um und dachte: »Mein Himmel, der Erdboden hier hat das Ansehen, als sei ein schweres Geschöpf darüber hingekrochen. Auch sehe ich hier große Erdklumpen, die von meiner Höhle zu beiden Seiten der Thüre heruntergefallen sind, als habe sich ein sehr dickes Thier durchzudrängen versucht. Ich will nicht eher hineingehen, bis ich weiß, daß Alles sicher ist.« Deßhalb rief er: »Mein liebes Haus, mein hübsches Haus, mein kleines niedliches Haus, warum antwortest Du mir nicht? Sonst sprichst Du ja immer, wenn alles drinnen sicher und ungefährlich ist. Ist irgend etwas so, wie es nicht sein soll? Und sprichst Du deshalb nicht?«

Da meinte der Aligator, der drinnen war: »Wenn das der Fall ist, so thue ich gut, ihm zu antworten, damit er sich einbildet, daß alles im Haus in guter Ordnung ist.« Deßhalb sagte er in dem sanftesten Tone, den er hervorzubringen vermochte: »Süßer kleiner Schakal.«[357]

Als der Schakal diese Worte vernahm, empfand er große Furcht und dachte in seinem Sinn: »Ja, es ist wirklich der alte schreckliche Aligator. Es muß mir gelingen, ihn zu tödten, sonst erlebe ich doch noch, daß er mich eines Tages frißt.« Deßhalb antwortete er: »Ich danke Dir, mein liebes, kleines Haus. Ich höre so gern Deine wohlklingende Stimme. Ich komme in einem Augenblicke; vorher möchte ich mir aber noch ein wenig Holz holen, damit ich mir ein Mittagsessen kochen kann.« Und dann rannte er, so schnell er nur konnte, davon, und schleppte all' die trocknen Zweige und die Stöcker, die er fand, ganz nah bis vor den Höhleneingang.

Inzwischen verhielt sich der Aligator drinnen mäuschenstill, innerlich aber lachte er bei dem Gedanken: »Nun habe ich schließlich diesen kleinen Quälgeist von Schakal doch hinter das Licht geführt. Nach ein paar Minuten läuft er hier herein, und dann kann ich ihn mit leichter Mühe fangen und verschlingen.«

Nachdem der Schakal alles Holz, das er finden konnte, auf einen Haufen getragen und an den Eingang seiner Höhle geschleppt hatte, schob er es so weit als möglich hinein und steckte es in Brand. Es war eine solche Menge, daß es bald in lichter Gluth stand, und der Rauch und die Flammen erfüllten die Höhle und erstickten den alten, schlechten Aligator, und während der jämmerlich verbrannte, lief der kleine Schakal draußen hin und her, tanzte vor Freuden und sang:


Wie gefällt Dir mein Haus?

Sieht es nicht sauber aus?

Ist es nicht warm und fein?

Ist es nicht hübsch und klein?

Heisa, juchhei, juchhei.

Alle Gefahr vorbei.[358]

Der Aligator todt,

Habe nun keine Noth.

Heisa, juchhei, juchhei,

Ich bin nun wieder frei! –


24. Der Aligator und der Schakal
Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 352-359.
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