[54] 17. Das Huhn und der Kasuar oder der Ursprung des Muschelgeldes
1

[54] Es war einmal ein kleiner Knabe, der ging am Meeresstrande spazieren. Damals gab es bei uns schon Muschelgeld, und wir brauchten nicht so weit zu reisen, wie heute, sondern fanden es hier ganz in der Nähe. Vier Tage brauchten die Leute nur wegzubleiben. Jetzt dauert die Fahrt dagegen sechs Monate.

Das kam so. An dem Tage stiegen die Männer wieder in die Boote, um Muschelgeld zu holen. Viele sahen am Strande zu, und ein Mann sagte zu den Schiffsleuten: »Wenn euch jemand auf der Reise begegnet und euch begrüßt, so seid recht freundlich zu ihm und dankt für den Gruß! Sollte euch der Einsiedlerkrebs begrüßen, dann antwortet ihm ja mit einem liebenswürdigen Gegengruß!«

Darauf fuhren die Boote ab und trafen wirklich den Einsiedlerkrebs, der ihnen einen guten Tag bot. Die Schiffsleute hatten jedoch die Ermahnung vergessen; sie dankten nicht, und einer von ihnen verspottete sogar den Einsiedlerkrebs.

»Seht einmal hin,« sagte er, »was für eine abscheuliche Fratze hat der Kerl!«

Darauf erwiderte der Krebs: »Wenn ihr das nächste Mal wieder hierherkommt, werdet ihr kein Muschelgeld mehr finden. Die Muscheln werden nun fortziehen und sich weit, weit von hier an einem andern Ort niederlassen. Euch soll die Lust an solchen Reisen schon vergehen; die werden euch beschwerlich genug fallen, und viele von euch sollen unterwegs sterben! Wer umkommt, wird dann fern von der Heimat in der Fremde, in der Wildnis begraben und keine Totengesänge, keine Totenklagen ehren sein Andenken!«

[55] Nun wurden die Männer traurig und verzehrten sich alle vor Sehnsucht nach dem geliebten Muschelgeld, aber niemand wußte, wo es war.


2

Eines Tages wurde der kleine Knabe schwer gekränkt. Er war hungrig, aber Vater und Mutter wollten ihm nichts zu essen geben, so sehr er auch darum bat. Sie sagten zu ihm: »Iß deinen Dreck, und wenn du nicht satt wirst, dann kannst du ja den der anderen Kinder auch noch verzehren, mit denen du immer spielst!«

Sie hatten ihn bitter gekränkt. Er gab ihnen keine Antwort, sondern ging still zum Hause hinaus an den Strand. Dort traf er einen mächtigen Baumstamm, den das Meer angeschwemmt hatte. Der fragte den Jungen: »Was ist mit dir los?«

»Vater und Mutter haben mich beschimpft und mir nichts zu essen gegeben.«

»Du armer Kerl! Wohin willst du denn nun gehen?«

»Ich werde mich heimlich im Walde herumtreiben. – Aber sag mal, wo bist du denn, der hier mit mir spricht?« »Setze dich nur auf den Baumstamm, der meint es gut mit dir.«

Das tat der Knabe, und nun fuhr der Baumstamm mit ihm schnell ins weite Meer hinaus.

Er schwamm und schwamm und schwamm immer fort und landete schließlich in Nakanai, wo man heute das Muschelgeld findet.

Doch der Knabe weinte. Da sagte der Baumstamm zu ihm: »Weine nicht, sondern flicht dir lieber eine Anzahl Körbe!« Kein Mensch war dort und der Knabe mutterseelenallein. Plötzlich sah er einen andern Baumstamm herankommen, auf welchem ein Huhn dem Ufer zuruderte. Da rief der Knabe: »Sieh, dort kommt ein Boot!«

Darauf erwiederte der Baumstamm: »Es wird hier bei uns [56] landen, sei recht höflich und begrüße das Huhn.« Das scheinbare Boot stieß an den Strand, und das Huhn hüpfte vom Baumstamm herab in den Sand. Der Knabe und der redende Baumstamm begrüßten das Tier und es fragte: »Woher kommt dieser Mensch?« – »Er will die Muscheln gern haben, die das Meer hier an den Strand kehrt,« antwortete der redende Baumstamm und fragte den Knaben: »Wie viele Körbe hast du nun wieder geflochten?«

»Zwei.« – »Dann flicht noch acht dazu!«

Und von neuem fragte der redende Baumstamm: »Wie viele Körbe hast du nun wieder geflochten?«

»Acht.« – »Dann flicht jetzt zehn dazu!«

Und wieder fragte der redende Baumstamm: »Wie viele Körbe hast du jetzt dazu geflochten?«

»Andere zehn!« – »Dann flicht nochmals zehn Körbe dazu!«

Der Knabe tat, wie der Baumstamm ihm geheißen hatte, und als er fertig war, fragte er: »Wozu willst du denn diese dreißig Körbe haben?«

»Komm,« antwortete der Baumstamm, »und nimm alle Körbe mit. Bei den ersten zehn stellst du dich hin; die übrigen ordnest du hier am Strande in einer langen Reihe und setzest einen neben den andern.«

Der Knabe setzte die Körbe in den Sand.

»Jetzt geh ein wenig von den Körben weg!« ragte der redende Baumstamm.

Da schoß eine Welle heran, die bestand aus lauter Muscheln. Sie schlug am Strande auf und füllte alle dreißig Körbe mit Muschelschalen. »Sind deine Körbe voll?« fragte der redende Baumstamm. »Ja, aber wohin soll ich sie tun?« »Lade sie nur auf den anderen Baumstamm!« – »Wohin soll ich sie denn bringen?« fragte der Knabe und weinte dicke Tränen; denn nun bekam er Sehnsucht nach Vater und Mutter. Der redende Baumstamm aber antwortete: »Warte nur, bald wirst du sie wiedersehen!«

Der Knabe kletterte also auf den anderen Baumstamm [57] hinauf, und der redende Baumstamm sagte zu ihm: »Wer soll dich nach Hause bringen?«

(Hm!)

Der Knabe weinte wieder bitterlich.

Da rief der redende Baumstamm das Huhn herbei und sprach: »Du, Huhn, bringe mir diesen Knaben in seine Heimat!« Das Huhn hüpfte darauf auf den Baumstamm, der sich sogleich in Bewegung setzte. Und er schwamm und schwamm und schwamm immerfort. Das Huhn fragte den Knaben: »Ist deine Heimat schon nahe?« – »Nein; sie ist noch weit weg!«

Der Baumstamm trieb immer weiter, und unterwegs begegneten sie einem anderen Baumstamm; auf dem saß ein Kasuar und ruderte.

»O, sieh, ein Boot!« rief der Knabe. Der Kasuar wünschte ihnen einen guten Tag; sie fuhren und fuhren und fuhren aber immer weiter.

Zum andern Mal fragte das Huhn den Knaben: »Ist deine Heimat schon nahe?« – »Nein,« antwortete der Knabe, »ich weiß gar nicht mehr, wo meine Heimat ist.« Sie fuhren immer weiter.

Plötzlich fing der Knabe wieder an zu weinen und sagte: »Wo mag meine Heimat denn nur sein?«

Sie fuhren und fuhren und fuhren immer weiter, und schließlich kam der Baumstamm in der Heimat des Knaben an. Da fragte das Huhn: »Junge, sag, in welchem Dorf wohnst du?«

Der Knabe zeigte ihm den Ort, und dort landeten sie. Die Körbe wurden nun alle an den Strand geschafft und hoch aufgestapelt. Dann brach der Knabe auf, wanderte ins Dorf und trat schließlich in das Haus von Vater und Mutter ein. Als er auf dem Hofe die Totenopfer und das Totengerüst sah, fragte er: »Für wen habt ihr das Totengerüst errichtet?«

»Das Totengerüst und die Totenopfer sind für dich da,« antworteten die Eltern. »Wir dachten, du wärest tot, und [58] deshalb haben wir alle Feierlichkeiten bestellt. Wir sind nun zwei arme Schlucker geworden, und wenn wir sterben, hinterlassen wir dir nicht soviel Muschelgeld mehr, um davon unser Begräbnis zu bestreiten. All unser Geld ist verbraucht. Wir haben es verteilt und die Trauergäste damit beschenkt, die zu deinen Totenfeierlichkeiten erschienen waren.«

»Kommt mal mit mir,« sagte der Knabe, »aber macht erst noch ein großes Paket Essen fertig.«

Die Eltern taten es und fragten dabei ihren Sohn: »Sag, wo bist du nur gewesen, woher kommst du eigentlich?«

»Ich bin soeben mit anderen wieder gelandet; ich habe eine weite, weite Reise von sechs Monaten hinter mir.«

»Und was hast du inzwischen gegessen?«

»Nicht viel. Ich bekam jeden Tag nur ein Stückchen Kokosnuß.«

Dann gingen sie an den Strand. Als sie dort ankamen, sagte der Knabe zu seinen Eltern: »Hier nehmt diese Körbe mit!«

»Woher hast du nur das viele Muschelgeld?«

»Das habe ich mitgebracht. Denkt an das Paket mit Essen, kommt, legt es da auf den Baumstamm!« –

»Wohin sollen wir es legen?« fragten die erstaunten Eltern.

»Legt es nur hin, dort auf den Baumstamm.«

Es geschah. Und sogleich hüpfte das Huhn, das solange das Geld bewacht hatte, auf den Baumstamm, und ein zweites folgte ihm. Dann schob der Knabe den Baumstamm in die See und sagte: »Baumstamm, schwimm fort.«

Der Baumstamm schwamm fort und mit ihm die beiden Hühner. Und er schwamm und schwamm und schwamm und landete endlich wieder in Nakanai.


3

»Was sollen wir mit den Muschelschälchen machen?« fragten die Eltern den Knaben.

»Durchbrecht sie und reiht sie auf einen Faden!«

Da machten die beiden in der Mitte jedes Schälchens ein [59] kleines Loch und reihten die einzelnen Muscheln auf lange Stränge. Der Knabe band sie dann auf einen großen Reifen und machte daraus einen dicken Ring. Als sie fertig waren, gab der Sohn seinen Eltern einen Ring ab und sagte: »Diesen Ring will ich euch schenken! Nun habt ihr das Geld wieder, was ihr für mich ausgegeben habt.«

Die Eltern freuten sich und gingen vergnügt nach Haus. Die übrigen Ringe nahm der Knabe mit in seine eigene Hütte. Er war der reichste Mann im Dorf und besaß dreißig große Ringe Muschelgeld.


4

Als die anderen Leute das hörten, wollten sie auch gerne Geld haben. Sie besprachen sich: »Kommt, wir wollen in das Land fahren, wo sich das Muschelgeld befindet.« Und sie gingen zum Knaben, der nun zum Mann geworden war, und fragten ihn: »Sag mal, wie viele Monate brauchen wir, um dort hinzukommen?« – »Im ganzen sechs Monate,« antwortete der Mann. – »Dann wollen wir reisen,« riefen die Leute, »aber laßt uns gehörig zu essen mitnehmen.«

Sie kochten nun Essen und richteten die Boote her. »Bindet ja die Ausleger gehörig fest an die Boote, damit sie recht widerstandsfähig werden und Wind und Wetter trotzen können!«

Als sie mit allem fertig waren, stiegen sie in die Boote, fuhren ab und landeten glücklich unter der Führung des reichen Mannes in Nakanai.

Sie sammelten dort die Muschelschälchen ein, und während sie beim Auflesen waren, kam der Kasuar auf dem Baumstamm angefahren. Er sah sich die Leute an, aber sagte nichts.

Der Mann hatte jedoch den Baumstamm erkannt; während die anderen Leute nun ihre Schätze in die Boote trugen, belud er ihn mit Muschelschälchen.

Als sie damit fertig waren, sagten sie: »Laßt uns wieder [60] heimkehren!« Und sie rüsteten alles zur Abreise und fuhren schließlich ab. Der Mann sagte aber zum Baumstamm: »Bleibe du nur vorerst hier, du wirst schon wissen, wann du kommen mußt.«

Dann stiegen alle in die Boote und fuhren in die Heimat. Sie waren noch auf hoher See und weit von ihrem Dorfe entfernt, als sie plötzlich hinter sich ein Rauschen vernahmen. Sie wandten sich um und sahen zu ihrer Verwunderung den Baumstamm nachkommen. Darauf saßen die Freunde des Mannes, das Huhn und der Kasuar.

Der Baumstamm überholte sogar die Boote und landete zuerst. Die übrigen Leute kamen viel später und fragten die Vögel: »Habt ihr denn die Körbe schon ausgeladen?«

Da antworteten die beiden: »Ja, die haben wir ausgeladen. Sie liegen dort sicher am Strande und die Brandung kann sie nicht erreichen.«

Während die Leute ans Land stiegen, fuhren die beiden Vögel wieder auf dem Baumstamm fort. Der reiche Mann wünschte ihnen Lebewohl und sagte zu den Leuten: »Hütet euch ja, jemals ein Huhn oder einen Kasuar zu beschimpfen oder zu kränken!«

Alle trugen die Körbe mit den Muschelschälchen an den Strand und in ihre Hütten und freuten sich, daß sie das Muschelgeld wiedergefunden hatten. Die Körbe des reichen Mannes bekamen seine Eltern, die damit vergnügt nach ihrem Gehöft zogen.

Der reiche Mann sagte aber: »Nun werden wir immer große Sehnsucht nach den Muschelschälchen von Nakanai haben!«

Jedes Jahr fahren die Leute nach Nakanai und holen neue Muschelschälchen. Sie nennen den Weg nach dem beleidigten Knaben, der später zum reichen Mann wurde, weil er den Weg ins Muschelgeldland wiedergefunden hatte. Sechs Monate brauchte man zu einer Fahrt.

Das Huhn wohnte fortan in Tabai und der Kasuar in Nakanai.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 54-61.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon