Die heidnische Jungfrau zu Glatz.

[42] Vor uralter Zeit regierte in dem Schloße zu Glatz eine heidnische Jungfrau, die ein sehr gottloses Leben führte. Sie verbrachte ihre Tage in Uippigkeit und Wollust und war eine große Zauberin. So soll sie mit ihrem Ranzenbogen vom Glatzer Schloße aus fertig bis zu der großen Linde bei Eisersdorf an der Gränze haben schießen können. Einmal nun wettete sie mit ihrem Bruder, wer am weitesten schießen würde. Sie schoß noch eine Meile weit über den Schloßgraben, ihr Bruder aber erreichte kaum die Hälfte des Weges und so gewann sie die Wette. Auf der Stelle, bis wohin sie geschossen hatte, wurden zwei lange spitzige Steine zum Denkzeichen gesetzet, die noch im 17. Jahrhunderte dort zu sehen waren. Diese heidnische Jungfrau lebte nicht nur mit andern, sondern auch mit ihrem eigenen Bruder in schändlicher Unzucht. Daher trachteten die Glatzer sie zu überwältigen und gefangen zu setzen. Sie war aber in Zauberkünsten erfahren und so stark, daß sie ohne Mühe ein starkes Hufeisen mit ihren Händen zerreißen konnte. Daher entgieng sie lange Zeit allen Nachstellungen. Als es endlich doch gelungen war, sie zu erhaschen, vermauerte man sie in einen großen Saal, der beim Thore war, durch welches man aus dem Niederschloß ins Oberschloß gehen kann, und ließ sie dort elendiglich umkommen. Zum ewigen Gedächtnis aber ließ man ihr Bildnis aus Stein hauen und in die Mauer über dem tiefen[42] Graben links von dem Thore, wo das Ober- und Niederschloß sich scheiden, einmauern. Auch soll ihr Bildnis im grünen Saale des Schloßes zu sehen gewesen sein. In dem heidnischen Kirchlein auf dem Glatzer Schloße zeigte man ferner an einem Nagel an der Wand das lange schöne gelbe Haar der heidnischen Jungfrau, das in Zöpfe geflochten war. Ihr Geist aber soll in Glatzer Schloße umgehen. Wer ihr Haar wegnehmen will oder spöttisch und höhnisch von ihr redet, dem erscheint sie in ihrer Gestalt und straft ihn fürchterlich. Ein Soldat, der auf dem Schloße Schildwache stand, spöttelte über sie und höhnte sie. Plötzlich stand die heidnische Jungfrau vor ihm, und gab ihm mit eisigkalter Hand einen Backenstreich. Ein anderer Soldat hatte das gelbe Haar der heidnischen Jungfrau aus dem Kirchlein weggenommen. In der Nacht darauf kam die Jungfrau nun zu ihm, schlug und kratzte ihn und hätte ihn getödtet, wenn nicht sein Kamerad auf seine Bitte das Haar rasch an den alten Ort zurück gebracht hätte. (Prätorius, Daemonolog. Rubenzal. I. p. 176.)

Quelle:
Grohmann, Josef Virgil: Sagen-Buch von Böhmen und Mähren. 1: Sagen aus Böhmen, Prag: Calve, 1863, S. 42-43.
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