[294] 63. Jack und seine Stiefmutter

In meiner Gegend lebte ein Mann, der im Laufe der Zeit drei Weiber gehabt hatte, und von seiner ersten Frau hatte er ein Kind, einen sauberen flinken Burschen. Sein Vater liebte ihn sehr, nicht aber die Mutter. Alles, was ihm je an Speise und Trank geschmeckt hatte, mißgönnte sie ihm. Und doch war sein Essen schlecht und er wurde nicht zur Hälfte satt. So tat sie ihm viel Leids, dafür möge sie der Teufel holen! Einst sagte die biedere Frau zu ihrem Ehegatten: »Ich rate dir, den Knaben baldigst in die Fremde zu schicken, denn er ist ein Spitzbube. Ich wünschte, ein anderer Mann hätte ihn in besserer Zucht.« Der gute Mann erwiderte: »Frau, ich sage dir, er ist noch jung an Jahren. Er soll noch ein Jahr lang bei mir bleiben, bis er stark genug ist, sich einen besseren Lohn zu verdienen. Wir haben da einen Mann, der das Vieh auf der Weide hütet und den halben Tag[294] schläft: der soll heimkommen und der Knabe soll aufs Feld, das Vieh zu hüten, wenn er mag.« Die gute Frau war damit zufrieden und stimmte dem bei: »So ist es am besten.« – Am andern Morgen, als es tagte, ging der kleine Bursche aufs Feld. Er trug einen Stab über der Schulter und war fröhlich und guter Dinge. Er ging fürbaß, bis er auf das Weideland kam: da zog er sein Mahl heraus. Als er aber sah, daß es so schlecht war, verspürte er geringe Lust dazu und steckte es wieder ein: »Ich will warten, bis ich abends wieder heimkomme.« Er setzte sich auf einen Hügel, da begegnete ihm ein alter Mann, der des Weges kam. Der sprach: »Gott behüte dich, lieber Sohn!« »Willkommen, Herr!« Der alte Mann war sehr hungrig und sprach: »Sohn, hast du ein wenig Speise bei dir, die du mir geben magst?« Der Knabe erwiderte: »Bei Gott, du sollst sehen, was ich habe und sollst mir willkommen sein.« Der kleine Bursche gab ihm, was er hatte und forderte ihn auf, zu essen und guter Dinge zu sein, und hieß ihn herzlich willkommen, um den alten Mann zu erfreuen. Der saß da und ließ es sich wohl sein, dann sagte er: »Herr, habe vielen Dank! Für die Speise, die du mir gabst, will ich dir drei Gaben gewähren, die sollen nicht vergessen sein.« Der Knabe versetzte: »Ich meine, es wäre das beste, wenn ich einen Bogen hätte, um Vögel zu schießen.« »Bogen und Bolzen sollst du haben, der dir dein ganzes Leben lang dienen soll; er soll dir immer passen und du magst schießen, wohin du willst, du sollst immer dein Ziel erreichen und niemals fehlen.« Da fühlte er den Bogen in der Hand und zog die Bolzen unter seinem Gürtel hervor. Darauf sprach er: »Hätte ich nun eine Pfeife, und wäre sie auch noch so klein, dann wäre ich zufrieden.« »Eine Pfeife sollst du haben, daran zweifle nicht. Und jeder, der deine Pfeife hört, soll nicht an sich halten können, sondern er muß einen Tanz springen. Laß nun sehen, was soll das dritte sein? Denn du sollst haben der Gaben drei, wie ich dir verhieß.« Der Knabe lachte laut und sprach: »Meiner Treu, ich habe genug, ich mag nichts mehr wünschen.« Der Alte sagte zu ihm: »Du sollst haben, was ich dir verhieß, darum sprich weiter und laß sehen!« Der kleine Bursche sprach alsbald: »Ich habe eine Stiefmutter zu Hause, die ist so widerwärtig mit mir. Wenn mir mein Vater zu essen gibt, so wollte sie, der Teufel ließe mich daran ersticken, so starrt sie mir ins Gesicht. So oft sie mich so anschaut, soll sie jedesmal einen Wind fahren lassen, daß es laut schallt.« Der alte Mann entgegnete: »Wenn sie dich so anschaut, dann soll sie zu blasen beginnen, so daß alle, die es hören, laut lachen.[295] Fahre wohl nun,« sagte er, »ich muß Abschied nehmen. Der liebe Gott stehe dir bei Tag und Nacht.« »Vielen Dank, Herrl« versetzte jener. – Später dann, als es Nacht wurde, ging der Knabe heim, denn so war ihm befohlen. Er zog seine Pfeife hervor und begann zu blasen: da fingen alle seine Tiere in der Runde an, einen Tanz zu springen. Der Knabe ging pfeifend durch die Stadt und die Tiere folgten ihm bis zu seines Vaters Hof. Als er heimgekommen war, sperrte er sie ein und ging in die Halle. Sein Vater saß gerade beim Abendessen und sprach zu ihm: »Willkommen, lieber Sohn! Wo sind die Tiere, hast du sie heimgebracht?« »Ja, Vater, ich habe sie den ganzen Tag gehütet und jetzt sind sie eingesperrt.« Der nahm ein Kapaunenbein und sprach: »Jack, das ist recht! Hier, Knabe, es soll dir nicht schlecht gehen!« Wie die Frau das sah, ärgerte sie sich. Sie schaute ihm mißmutig ins Gesicht. Da ließ sie einen Wind fahren, so daß jeder, der dabei war, baß erschrak. Alle lachten und freuten sich, aber die biedere Frau ward rot vor Scham und wünschte sich weit weg. Jack sprach: »Die Kanone war gut abgeprotzt, wenn sie auch nur mit einem Stein geladen war.« In höchster Wut starrte sie ihn an, da ließ sie einen zweiten streichen. Jack sprach: »Hört ihr? Meine Mutter will eine zweite Kugel fliegen lassen.« Alle lachten und freuten sich, das Weib aber ging voll Scham hinweg und war in großem Kummer. Der Biedermann sagte: »Geh deiner Wege, denn es ist Zeit, dein Hinterer ist heute nicht von Pappe!« – Bald darauf geschah es, daß ein Klosterbruder in das Haus kam und die Nacht über dort beherbergt wurde. Die Frau hielt ihn für einen Heiligen und klagte ihm ihr Leid: »Ich habe einen Buben, der in diesem Hause wohnt. Er ist ein Bösewicht und tut mir viel Leids. Ich kann ihn nicht anschauen, ohne daß mir etwas Schimpfliches passiert. Such ihn morgens auf dem Felde auf und schau, daß du ihn krumm und lahm schlägst. Gewiß, er ist ein verfluchtes Aas, ich glaube, er ist ein Hexenmeister, denn er tut mir viele Schmach.« Der Bruder antwortete: »Das will ich tun.« Sie bat ihn, nicht darauf zu vergessen, dann werde sich ihr Kummer lindern. Der Bruder sprach: »Meiner Treu, wenn ich den Knaben nicht gut in Zucht bringe, so sollt ihr kein Vertrauen mehr zu mir haben.« – Am andern Morgen erhob sich der Knabe und trieb seine Herde vor sich her auf die Weide. Der Bruder trat aus dem Tore hinaus und lief geschwind hinter ihm her, denn er glaubte, er käme zu spät. Als er auf das Feld kam, fand er den kleinen Burschen bei seinen Tieren und sprach zu ihm: »Gott schände dich![296] Was hast du mit deiner Stiefmutter gemacht? Das sag mir! Aber wenn du dich nicht entschuldigen kannst, bei Gott, dann will ich dich krumm und lahm hauen.« Der Knabe entgegnete: »Was hast du denn? Meiner Stiefmutter geht es ebenso gut wie dir und du hast keinen Grund zu schelten. Aber willst du wissen, wie viele Vögel ich schießen kann und viele andere Dinge? Ich bin sicher, wenn ich auch klein bin, ich werde jenen Vogel treffen und dann will ich dir ihn schenken.« Ein Vogel saß auf einem Dornstrauch. »Schieße ihn,« sagte der Bruder, »es lüstet mich, das zu sehen.« Der Knabe traf ihn auf den Kopf, daß er nicht mehr davonfliegen konnte und tot niederfiel. Der Bruder ging in die Hecke, um den Vogel aufzuheben. Der Knabe aber legte rasch seinen Bogen beiseite und nahm seine Pfeife. Als der Bruder die Pfeife vernahm, gebärdete er sich wie ein Narr und begann einen Tanz zu springen; er machte große und kleine Sätze und konnte nichts weiter tun als tanzen. Brombeeren kratzten ihn im Gesicht und anderswo, sein Leib fing an zu bluten und überall zerrissen seine Kleider. Der Knabe aber blies immerfort und lachte, wie sich der Bruder drehte und sprang: er hüpfte wunderhoch. Er sprach: »Meiner Treu, das ist ein Spaß für einen König, dir zuzuschauen.« Der Bruder erhob seine Hand und bat ihn, still zu sein: »Ich gebe dir mein Wort, daß du keinen Harm mehr von mir haben sollst. Ich tue dir nichts zu Leide.« Der Knabe erwiderte: »Krieche auf der andern Seite heraus und mach, daß du fortkommst! Meine Stiefmutter hat sich bei dir beschwert und jetzt wirst du dich bei ihr beschweren können.« Der Bruder kroch aus der Hecke heraus, er war ganz zerrissen und zerfetzt, kein Flicken war ihm heil geblieben, damit seinen nackten Hintern zu verbergen. Seine Hände und sein Gesicht waren zerkratzt und ganz mit Blut überronnen. Jeder, der ihn sah, machte sich aus dem Staube aus Furcht, der Bruder sei toll. – Als er zu seinem Gastfreund kam, rühmte er sich seines Tagewerks nicht, sondern war ganz still und zahm. Argen Kummer trug er im Herzen, und jeder erschrak, als er in die Stube trat. Die biedere Frau sagte: »Wo warst du? Du bist, scheint mir, in einer schlechten Verfassung?« Er versetzte: »Ich war bei deinem Sohn. Der höllische Teufel züchtige ihn, denn ich vermag es nicht.« Darauf kam der gute Mann herein: »He, Herr!« sprach die Frau zu ihm: »dein Sohn, der dir so lieb und teuer ist, hat beinahe diesen heiligen Gottesmann erschlagen!« Der gute Mann sagte: »Benedicite! Was hat dir mein Knabe getan, das sage mir!« Der Bruder antwortete: »Beim heiligen[297] Jakob! Ich habe getanzt in des Teufels Namen.« Der gute Mann sprach zu ihm: »Und hättest du dabei das Leben verloren, so wärest du in Sünden von hinnen gefahren.« Der Bruder entgegnete: »Ich will dir sagen, wie es kam. Mich dünkte, die Pfeife klang so lustig, daß ich nicht aufhören konnte.« »Meiner Treu,« sprach jener, »das muß eine lustige Musik sein, oder du verdienst Tadel. Fürwahr, die Pfeife will ich hören!« Der Bruder erwiderte: »Ich nicht, bei Gott und St. Jakob!« – Später, als es Nacht wurde, kam der Knabe heim. Als er in die Halle kam, rief ihm sein Vater zu: »Knabe, komm sogleich hierher! Höre, Bursch, was hast du diesem Bruder getan? Das sage mir ohne Lüge!« »Vater,« sprach jener, »meiner Treu, ich tat ihm nichts den ganzen Tag, als daß ich ihm einen Tanz aufspielte.« »Deine Pfeife,« versetzte der Vater, »will ich hören.« »Nein, bei Gott, rief der Bruder, das wäre ein Unglück!« Der Biedermann sagte: »Doch, bei der Gnade Gottes!« Darauf der andere: »Weh mir! Weh mir!« und er begann, seine Hände zu ringen. »Aus Liebe zu Gott,« sprach der Bruder, »wenn ihr die Pfeife hören wollt, so bindet mich an den Pfosten! Gewiß, ich weiß keinen anderen Rat, ich bin verloren und hin!« Stricke nahmen sie zur Hand und banden ihn an den Pfeiler, der in der Halle stand. Die, welche beim Essen saßen, hatten ihre Kurzweil und lachten darüber und sagten: »Nun kann der Bruder nicht fallen.« Da sprach der gute Mann zu seinem Sohn: »Blase zu, was du willst.« »Fertig, Vater!« sagte der, »ich will euch meine Musik zeigen, ihr sollt ein Stücklein zu hören bekommen!« Sobald die Pfeife erklang, konnten sie nicht an sich halten, sie mußten einen Tanz springen. Der gute Mann war in Verzweiflung; mit bitterbösem Gesicht stürzte er von seinem Stuhl empor. Die beim Essen saßen, sprangen über den Tisch, die den Rücken herkehrten, hatten nicht mehr Zeit, sich umzuwenden, sondern purzelten herunter, die einen rannten ihre Schienbeine gegen die Blöcke, die andern stolperten über die Bretter und die dritten fielen ins Feuer. Die gute Frau kam herein, auch sie begann zu springen und sich zu drehen. Aber jedesmal, wenn sie den kleinen Jack anschaute, ließ sie ihren Hintern reden, daß alles krachte. Der Bruder war halbtot, er schlug mit seinem Kopf gegen den Pfeiler, denn das war alles, was er tun konnte. Der Strick rieb fest auf seiner Haut und an manchen Stellen rann ihm das Blut herab. Der Knabe ging blasend auf die Gasse und hinter ihm heulte der ganze Haufe. Dicht gedrängt, der eine am Nacken des andern, so kamen sie aus dem Tore heraus. Die, welche in der Nähe[298] wohnten, hörten die Pfeife da, wo sie gerade saßen. Sofort sprangen sie über die Halbtür, denn sie nahmen sich nicht Zeit, die Klinke niederzudrücken, aus Furcht, sie möchten zu spät kommen. Und die, welche im Bette lagen, erhoben sogleich den Kopf und eilten so nackt, wie sie geboren waren, auf die Straße. Als alle versammelt waren, da war eine große Menschenmenge mitten auf der Gasse. Einige waren lahm und konnten nicht gehen, aber sie hüpften auch herum und krochen auf allen vieren. Der Knabe sprach: »Vater, hast du genug?« »Bei Gott,« sagte der mit recht vergnügter Miene, »ich halte es für das beste, wenn du aufhörst. Mach ein Ende, wenn du willst! Bei Gott, das war das lustigste Stücklein, das ich seit sieben Jahren gehört habe.« Wie die Pfeife nicht mehr klang, da verwunderten sich alle über ihr Gebahren. »Bei der heiligen Jungfrau,« sagte da mancher, »wohin ist all die Lust gekommen, die uns immerfort tanzen machte?« Jedermann war guter Dinge mit Ausnahme der guten Frau und des Bruders, die waren ganz zerschlagen. Nun habt ihr gehört, wie Jack mit seiner Stiefmutter verfuhr und wie er dem Bruder aufspielte. Aber des Knaben Spiel hatte ihm nicht gefallen, deshalb nahm er Abschied und zog mit bekümmerter Miene seiner Wege. Der Biedermann zog seine Kinder auf, die Stiefmutter war freundlich zu ihnen und allen ging es gut.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Märchen, Schwänke und Fabeln. München 1925, S. 294-299.
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