[184] 54. Der Schlangenkamm

Es ging einmal ein Jäger in den Wald. Dort traf er eine Schlange, die auf dem Kopf einen Kamm hatte. Der Jäger schoß auf sie mit der Flinte. Die Schlange begann zu schreien. Auf ihr Geschrei strömte eine Menge kleiner Schlangen herbei. Wohl schlug der Jäger mit einem Knüttel nach ihnen, das half aber nichts. Endlich warf der Jäger seine eigenen Kleider ihnen zu. Da blieben die Schlangen bei den Kleidern, und der Jäger konnte entfliehen.

Am anderen Tage ging der Jäger wieder dorthin, wo er nach der Schlange mit dem Kamm geschossen hatte. Er fand die Schlange wieder vor. Sie hatte nur noch wenig Leben in sich und konnte nicht mehr entfliehen.

Dem Jäger kam der alte Glaube in den Sinn: Wer einen Schlangenkamm aufißt, der versteht alle Vogelsprachen. Der Jäger nahm den Schlangenkamm, ging nach Hause, kochte ihn und aß ihn auf.

Dann ging er hinaus spazieren. Eine Krähe krächzte, und der Mann verstand alles, was die Krähe sprach.

Am nächsten Abend ging der Jäger in den Wald auf die Jagd. Im Walde wurden die Hunde des Jägers unruhig und fingen an, um den Herrn herumzuwinseln. Der Herr streichelte sie und fragte sich selbst: ›Wer weiß, was den Hunden fehlen mag?‹

Der eine Hund öffnete das Maul, und der Jäger verstand sogleich, was der Hund in seiner eignen Sprache sagte: »Diebe kommen heute in unsre Vorratskammer, um zu stehlen!«

Da bekam der Jäger sofort Eile, nach Hause zu gehn. Aber der [184] eine Hund sprach zu dem andern: »Bleib du hier! Ich gehe nach Hause, um die Klete zu bewachen!«

Als der Jäger das hörte, ließ er den Hund nach Hause gehn, selber aber blieb er mit dem andern Hunde im Walde. Der erste Hund kam nach Hause und verscheuchte die Diebe sogleich in den Wald.

Die Hausfrau kam auf das Gebell des Hundes aus der Stube heraus und sah, was geschehen war. Die Hausfrau lobte den Hund und sprach: »Dafür will ich dir etwas Gutes geben, woran du dich satt essen kannst!«

Die Hausfrau ging in die Stube. In der Stube fand sie aber kein Wasser. Da nahm sie Spülicht, tat Mehl hinein und setzte es dem Hund vor. Der Hund schnupperte daran, fraß es aber nicht, sondern wollte aus der Stube hinaus.

Die Hausfrau ließ den Hund ins Freie, und der Hund lief zum Hausherrn in den Wald. Der andre Hund fragte ihn: »Nun, wie ging es zu Hause?« Jener antwortete: »Die Diebe hab ich freilich fortgejagt, und die Hausfrau hat mir zu essen gegeben! Aber was soll man da essen! Schmutziges Spülicht mit etwas Mehl!«

Der Hausherr hörte das. Er ging nach Hause und nahm seine Frau vor: »Wie darfst du so etwas tun! Der Hund hat unser Eigentum vor dem Diebe behütet, und du setzt ihm schmutziges Wasser vor!«

Die Frau fragte ihn: »Wer hat es dir denn gesagt, daß ich das getan habe?«

Der Jäger antwortete: »Die Hunde haben es gesagt!«

Die Frau entgegnete: »Hunde sprechen doch nicht! Hunde bellen!«

Der Jäger antwortete: »Ich hab einen Schlangenkamm in die Hände bekommen, hab ihn gekocht und aufgegessen. Deshalb versteh ich jetzt die Sprachen der Tiere!«

Als der Jäger das gesprochen hatte, fiel er zur Erde und war tot.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 184-185.
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