[185] 55. Die Stiefmutter

Einem Manne starb seine Frau. Zwei Kinder blieben übrig. Die Kinder waren noch klein, und deshalb nahm der Mann sich eine [185] zweite Frau. Die ging aber mit den Kindern sehr hart um und gab ihnen mehr Prügel als Essen.

Das Weib bekam schließlich auch selbst ein paar Kinder, und das machte das Leben der Waisen noch schlechter. Besonders schlimm ging es dem jüngeren Kinde, denn es konnte noch nicht arbeiten; deshalb war die schlechte Stiefmutter immer auf dieses Kind böse. Sie dachte immer nach, wie sie diese Brotesser kleinkriegen könne.

Eines Tages war der Mann im Walde mit Holzfällen beschäftigt. Um diese Zeit kam der Teufel und half der Frau einen Rat finden.

Der Frau kam ein schrecklicher Gedanke in den Sinn. Sie nahm das jüngere Kind, schlachtete es, schnitt es in Stücke und kochte es. Am Abend kam der Mann nach Hause. Die Frau gab dem Manne das Fleisch des Kindes zu essen. Der Mann aß es und lobte: »Wo hast du solch ein schönes, knuspriges Fleisch hergenommen?« Die Frau antwortete: »Ich habe ein kleines Ferkel geschlachtet.«

Der Mann aß sich satt, ohne auch nur zu ahnen, daß er seines eignen Kindes Fleisch esse. Das ältere Kind wußte es wohl, wagte aber nicht, es dem Vater zu sagen, weil es die Drohungen der Stiefmutter fürchtete.

Als das Essen zu Ende war, fragte der Mann nach dem Kinde. Die Frau antwortete: »Wer weiß, wo es wieder steckt?« und ging dann mit dem größten Eifer, das Kind zu suchen.

Nach dem Essen sammelte das ältere Kind die Knochen des jüngeren vom Tisch zusammen, umband sie mit einem Faden und vergrub sie unter einer Weide, die hinter dem Hause wuchs.

Nach einiger Zeit begann an der Weide eine Harfe zu wachsen, und schließlich hörte man auch eine traurige Stimme, die aus der Harfe die Worte sang:


»Die Mutter hat mich umgebracht,

der Vater hat mich gegessen,

die Schwester sammelte meine Knochen,

sie umwand sie mit blauem Faden

und umflocht sie mit rotem Band.«


[186] Diesen Gesang hörte der Vater des Kindes am häufigsten. Endlich fing man an, unter der Weide zu suchen, und fand die Kinderknochen.

Nun kam es heraus, daß das Kind ermordet war, und die Mörderin erhielt natürlich ihre Strafe.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 185-187.
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