[188] 57. Das Gesicht in der Neujahrsnacht

Einmal ging ein Mädchen, ohne daß die andern es wußten, in der Neujahrsnacht in eine leere Stube, stellte einen Spiegel vor sich auf, stellte zwei Schnapsflaschen rechts und links vom Spiegel hin, setzte sich vor den Spiegel und schaute starr hinein, um ihren zukünftigen Bräutigam zu erblicken.

Plötzlich tauchte vor dem Mädchen ein Soldat auf, der einen blanken Degen in der Hand hielt. Das Mädchen erschrak vor dem Soldaten und lief davon. Der Soldat warf ihr seinen Degen nach, und der Degen blieb in den Kleidern des Mädchens stecken. Darauf verschwand der Soldat. Das Mädchen aber nahm den Degen und versteckte ihn.

Im nächsten Jahr bekam das Mädchen auch wirklich einen abgedankten Soldaten zum Mann. Als sie schon ein paar Jahre zusammen gelebt hatten, da gebar die Frau einen Sohn. Um diese Zeit fand der Soldat den von seinem Weibe versteckten Degen. Er fragte sie sogleich, wo sie den Degen her habe.

Die Frau wollte es zuerst nicht sagen. Schließlich sagte sie's aber doch. Der Mann geriet in Zorn und rief, daß er wegen des verschwundenen Degens viel Leid erfahren habe. Da habe er damals geschworen, wenn er den Degen wieder in seine Hände bekomme, wolle er sofort denjenigen töten, bei dem er ihn finde.

Er zog darauf den Degen und tötete seine Frau und danach auch sich selbst.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 188.
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