[188] 58. Der Bettler und die reiche Bäuerin

Es kam einmal auf einen Bauernhof ein Bettler und bat um ein Nachtlager. Die Bäuerin jagte aber den Bettler kreischend und schimpfend davon. Der Bettler machte, daß er davonkam, denn die Bäuerin drohte, die Hunde auf ihn zu hetzen.

[188] Der Bettler ging zu einer armseligen Hütte und bat auch dort die Hausfrau um ein Nachtlager. Die Frau sprach: »Wohin wirst du Armer gehn! Komm nur herein! Ich habe freilich selbst nur wenig Brot, aber einem Armen muß man immer etwas abgeben!«

Als der Bettler in die Stube kam und die Kinder der armen Bäuerin sah, da fragte er: »Warum haben deine Kinder so schrecklich schmutzige Hemden an?«

Die Bäuerin antwortete: »Ich bin eine arme Witwe und habe fünf Kinder zu ernähren. Soviel Geld hab' ich nicht, daß ich jedem zwei Hemden anschaffen könnte!«

Darauf erwiderte der Bettler nichts. Als die Abendmahlzeit kam, wurde er zum Essen gerufen. Er sagte aber, er sei krank, und kam nicht. Am Morgen legte der Bettler das Brot aus seinem eigenen Sack auf den Tisch und sprach: »Was du zu tun anfängst, das tu bis zum Abend!«

Das arme Weib begriff die Worte des Bettlers nicht. Sie hatte etwas Leinwand und dachte: ›Vielleicht reicht es doch wenigstens einem Kinde zu einem Hemd.‹ Sie ging ins Dorf, um ein Ellenmaß zu suchen und damit die Leinwand zu messen, ob sie auch zu einem Hemde reiche oder nicht.

Sie bekam das Ellenmaß. Als sie nach Hause kam, sagte sie: ›Wenn schon der Bettler sagt, daß meine Kinder zu zerlumpt sind, was mögen da erst die andern Leute sagen!‹

Als sie nach Hause kam, ging sie sogleich zur Vorratskammer. Aber wie erschrak sie, als sie die Tür nicht aufmachen konnte! Schließlich sprengte sie die Tür mit einer Stange auf. Aber was sah sie da! Die Kammer war voll von Leinwandrollen. Da begann die Frau sogleich, die Leinwand zu messen. Am Abend, als die Sonne unterging, war sie mit dem Messen des letzten Stückes fertig. Nun erst begriff sie die Worte des Bettlers. In der Eile des Messens hatte sie nicht einmal Zeit gehabt nachzudenken, woher all dieses Zeug plötzlich in ihre Vorratskammer gekommen sei.

Am Abend, als sie das Ellenmaß zurückbrachte, erzählte sie der reichen Bäuerin, wie sie auf das Wort des Bettlers hin unendlich viel Leinwand bekommen habe.

Als die reiche Bäuerin das hörte, sprach sie zum Knecht: »Spann [189] rasch das Pferd an und hol uns den Bettler her! Den Armen muß man immer helfen.«

Der Knecht mußte fahren. Als er am nächsten Tage den Bettler auffand, wollte dieser zuerst nicht kommen. Als der Bettler aber hörte, daß der Knecht den strengen Befehl habe, ohne ihn nicht zurückzukehren, setzte er sich in den Wagen und fuhr mit.

Die Bäuerin nahm den Bettler diesmal mit der größten Freundlichkeit auf. Sie überließ dem Bettler ihr eigenes Lager und gab ihm zu essen und zu trinken. Nun hatte der Bettler ein goldnes Leben. Er aß, trank und schlief, soviel er nur konnte. Ans Fortgehen dachte er überhaupt nicht mehr.

Die Geduld der Bäuerin fing aber schon an, zu Ende zu gehn. Fortjagen konnte sie den Bettler freilich nicht, denn dann wäre ja alles umsonst gewesen.

Zur Freude der Bäuerin machte sich der Bettler am Morgen des vierten Tages auf den Weg. Die Bäuerin ging hinaus, ihn zu geleiten. Als der Bettler schon zum Tore hinausgehen wollte, fragte ihn die Bäuerin: »Was werd' ich heute zu tun anfangen?« Der Bettler antwortete: »Was du zu tun anfängst, das tu bis zum Abend!«

Die Bäuerin ging in die Stube, um das Ellenmaß zu holen und sich ans Leinwandmessen zu machen. Plötzlich wurde es ihr aber notwendig, ihren Magen zu erleichtern. Damit mußte sie sich nun bis zum Abend beschäftigen. Erst nach Sonnenuntergang kam sie in die Stube zurück.

Sie hatte den Bettler mehrere Tage gefüttert – und gar nichts dafür bekommen! Die Habsucht hatte sich selbst gestraft.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 188-190.
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