[190] 59. Der Reiche drischt

Als Jesus noch auf Erden wandelte, kam er eines Abends mit seinen Jüngern zu einem reichen Bauern und bat ihn um ein Nachtlager. Der Bauer gab ihnen aber keins, sondern sagte, er habe dafür keinen Raum.

Darauf ging Jesus zu einem armen Bauern, um ihn um ein [190] Nachtlager zu bitten. Der Arme antwortete, ein Nachtlager möchte er ihnen wohl um Gottes willen gewähren, er könne aber dennoch keine Fremden beherbergen, weil er morgen dresche. Doch Jesus versprach ihm, mit seinen Jüngern beim Dreschen zu helfen. Unter dieser Bedingung erhielten sie denn auch das Nachtlager. Als man am Morgen zu dreschen anfing, nahm Jesus einen Kienspan und steckte die trockenen Halme an. Die flammten sofort auf. Der Bauer erschrak bei diesem Anblick furchtbar. Jesus aber ging mit einem Stock ums Feuer herum und sprach: »Sachte, sachte, Laurits1, geh nicht ins Lattenwerk!«

Das Feuer hörte das und brannte ruhig und ganz sachte. Als es am Verlöschen war, fand man hier die Körner und dort die Spreu. Der reiche Bauer hörte von diesem Dreschverfahren. Er versuchte es sofort nachzumachen. Sowie er aber die Halme angesteckt hatte, flammte das Feuer augenblicklich auf und wollte aufs Lattenwerk hinüberspringen. Wohl rief der Mann: »Sachte, sachte, Laurits, geh nicht in den Dachraum!« – das half aber gar nichts, das Feuer griff doch in den Dachraum hinein.

Schließlich schrie der Mann, indem er ums Feuer herumsprang: »Laurits, Teufel, was hast du im Dachraum zu suchen!« Aber dennoch brannte das Haus bis auf den Grund nieder.

Diesmal übernachtete Jesus dort in der Nähe. Ein Jünger ging hinaus und sah den Feuerschein. Er kam in die Stube und sprach: »Draußen sieht es böse aus!« Jesus drehte sich aber auf die andre Seite und sprach: »Das hat nichts zu bedeuten; da drischt bloß der Reiche!«

Fußnoten

1 Lorenz (so heißt der Schutzheilige des Feuers)

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 190-191.
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