[191] 60. Der gehörnte Pastor

Zur katholischen Zeit lebte einmal ein Vater mit seinen Söhnen in einer verfallenen Hütte am Rande des Pastoratsfeldes. Anderes Getier hatten sie nicht als einen roten Hahn und einen schwarzen Kater. Eines Abends kamen die Söhne von der Arbeit nach Hause zurück. An der Schwelle kam ihnen der Kater mit[191] kläglichem Miauen entgegen und lief vor den Söhnen her zum Lager des Vaters. Die Söhne schauten hin: der Vater lag auf seinem Lager lang hingestreckt.

Die Söhne fragten: »Vater, was tust du da?« Aber der Vater gab keine Antwort.

Die Söhne fragten wieder: »Vater, bist du krank?« Aber der Vater schwieg noch immer. Da schauten sie genau nach und merkten: der Vater war ganz kalt. Da half nichts mehr: der Vater war tot, ganz tot.

Als der erste Schmerz vorbei war, hielten die Söhne Rat, wie sie ihr Väterchen bestatten wollten. Sie fanden ein paar Bretter und machten daraus einen Sarg. Zum Begräbnisschmaus schlachteten sie ihren Hahn.

Der eine Bruder blieb zu Hause, um noch das eine und andere vorzubereiten, der andre aber ging zum Pastor, ihm den Tod des Vaters anzuzeigen und ihn zum Begräbnis zu bitten. Der Junge hatte kaum seine Rede beendet, da rief der Pastor: »Bring deinen Rubel her!«

Nun war der Junge in einer bösen Klemme. Es war auch nicht eine rote Kopeke im Hause vorhanden, wo sollte man da noch den Rubel für den Pastor hernehmen!

Der Junge bat: »Lieber Herr! Ich hab' auch nicht eine Kopeke zu Hause! Beerdigt doch das Väterchen umsonst!«

Der Pastor erwiderte: »Bring deinen Rubel her, dann beerdige ich ihn, anders nicht!«

Es half nichts: der Junge mußte zurückkehren, ohne etwas erreicht zu haben.

Zu Hause hielt er mit seinem Bruder Rat, was man tun solle.

Der Ausweg war gleich gefunden: »Beerdigen wir den Vater selbst!« sprach der eine.

»Beerdigen wir ihn!« antwortete der andre. »Graben wir sogleich ein Grab. Wenn es dunkel wird, wollen wir den Vater beerdigen!«

Sie nahmen Schaufeln und machten sich an die Arbeit und hatten noch gar nicht lange am Grabe geschaufelt, da fanden sie einen Geldkasten. Sie sprengten den Kasten auf: der Kasten war voll von Silberrubeln.

[192] Nun hatten die Jungen eine große Freude und trugen den Kasten nach Hause. Der eine nahm aus dem Kasten einen Rubel und ging damit zum Pastor.

Der Pastor fragte gleich: »Wo hast du diesen Rubel hergenommen?«

Der Junge erzählte offenherzig, wie sie den Vater selber begraben gewollt und beim Schaufeln des Grabes den Geldkasten gefunden hatten.

Der Pastor erklärte: »Den Geldkasten müßt ihr augenblicklich an die alte Stelle zurückbringen. Den hat der Teufel dorthin versteckt!«

Mit traurigem Herzen ging der Junge nach Hause. Was sollte man da anders tun als des Pastors Geheiß befolgen? Sie nahmen jedoch das Geld aus dem Kasten heraus und brachten dann selbander den Kasten an die alte Stelle zurück. Sie schütteten das Grab bis zum Rande mit Erde zu und gingen langsam nach Hause.

An der Kirchhofsmauer lauerte unterdessen der Pastor, ein weißes Laken um die Schultern, einen dreieckigen Hut auf dem Kopf. Kaum waren die Jungen ihres Weges gegangen, so sprang der Pastor aus seinem Versteck hervor, grub das Grab auf und holte den Kasten heraus. Aber o Wunder: auch nicht eine rote Kopeke war drin! Der Pastor fluchte und schimpfte, was er konnte.

Der Kirchenglöckner hatte einen Ziegenbock. Der kam jeden Tag auf den Pastoratshof weiden. Diesen Bock ließ der Pastor schlachten und das heile Fell zu sammen mit den Hörnern abziehen. Er zog sich das frische Bocksfell über den Leib, ging in der Abenddunkelheit zur Hütte der Jungen und rief: »Bringt mir mein Geld her!«

Die Jungen waren tief erschrocken. Sie sprangen auf den Ofen zum Gelde. Das Geld lag auf dem Ofen in einem großen Sack. Das gehörnte Gespenst hörte nicht auf, das Geld zu verlangen, und wollte es gar mit Gewalt fortnehmen. Schließlich wußten die Jungen keinen anderen Rat: sie mußten das Geld dem Gehörnten herausgeben. Der nahm das Geld und ging seines Wegs.

[193] Zu Hause wollte der Pastor seinen Gespensterrock wieder ausziehen. Umsonst! Der war wie angewachsen. Schließlich rief der Pastor einen Knecht herbei, damit er ihm die Hörner mit einer Eisenstange vom Kopfe herunterschlage. Er zählte selbst: eins, zwei, drei! Der Knecht schlug zu. Der gehörnte Pastor aber schrie jämmerlich auf.

Mehrmals noch versuchte der Knecht die Hörner vom Kopfe zu schlagen, doch alles war umsonst. Der Hörnerträger brüllte geradezu vor Schmerz.

Vor Schrecken und Schmerz legte sich der gehörnte Pastor endlich ins Bett.

Der Küster hörte von der Sache. Er ging den Pastor besuchen. Man antwortete ihm: »Der Herr ist krank, er kann niemand empfangen.«

Der Küster aber ließ nicht locker. Nach langem Drängen machte der Knecht endlich die Stubentür auf. Der Küster blickte hinein: die Hörner ragten unter der Decke hervor. Der Küster erschrak so sehr, daß er sofort der Länge nach hinstürzte. Er war tot.

Darauf wollte der Glöckner den Pastor besuchen. Er hatte einen schauerlichen Schreck, rief: »Hörner, Hörner!«, fiel hin und war gleichfalls tot.

Vor Scham und Entsetzen wagte es der Hörnerträger nicht mehr, noch länger dort zu bleiben. Er ließ am Abend anspannen, stieg in den Wagen und fuhr in die Stadt. Dort hat er unter Freunden noch mehrere Jahre gelebt. Die Hörner aber ist der Arme niemals mehr losgeworden.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 191-194.
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